Das Licht im großen Gemeindesaal ist gedämpft. Zwischen den feierlich gedeckten Tischen huschen nicht minder schicke Kellner umher. Auf den Tellern schwimmt »Glasierter Lachs« oder die »Vegetarische Option« – jedenfalls alles koscher.
Israelischer Folk-Pop aus der Stereoanlage mischt sich mit dem Gemurmel von rund 100 Gästen. Silberne Kerzenleuchter und Rotweinflaschen verdecken die Sicht auf manch Gegenüber. Über allem leuchtet eine Israelflagge aus Lichterketten.
Unterstützt Um hier sitzen zu dürfen, mussten die Gäste 100 Euro aufbringen. Mindestens. Denn was so feudal den klischeehaften Ruhrpottcharme kontrastiert, dient einem guten Zweck: der Unterstützung des Kinderheims »Bet Elazraki« im israelischen Netanya – Dortmunds Partnerstadt.
Rabbiner Avichai Apel hat sich dieses Gala-Dinner ausgedacht. »Es ist einfach die richtige Zeit gekommen für solch eine Veranstaltung in Dortmund«, erklärt er. Dass es »etwas für Kinder sein sollte«, habe außer Frage gestanden. Jahrelang hatte es in der Gemeinde »nichts Vergleichbares« gegeben. »Gewisse Vorbehalte« auch hinsichtlich der Spendenbereitschaft hätten sie gehemmt, berichtet der Rabbiner. Nun aber habe er vor, dergleichen einmal im Jahr zu organisieren.
Eingeläutet hat er den Abend mit einer Kurzfilmvorführung über das Kinderheim. Die Dokumentation zeige zwar Tatsachen, »allerdings nicht zu hart, um nicht zu verschrecken«, erklärt Apel. Dafür entlasse er die Menschen mit einem guten Gefühl.
Traumatisiert Das Heim wurde 1969 von der Sabah-Familie aus Marokko ins Leben gerufen. Es ist »tief verwurzelt im Schicksal der jüdischen Nation«, denn zu Beginn war es vor allem eine Bleibe für »Kinder von gequälten Holocaust-Überlebenden, die zu traumatisiert waren, diese selbst großzuziehen«. Nun ist es das Zuhause für mehr als 150 Kinder aus zerrütteten Familien mit gesundheitlichen, sozialen oder wirtschaftlichen Problemen. Alle haben viel durchgemacht. »Manche sind verwaist, andere wurden ausgesetzt, geschlagen oder belästigt.«
Das Bet Elazraki will mehr sein als eine Verwahrstelle, die Essen ausgibt. Zwar beginne jeder Tag mit einem »nahrhaften Frühstück«, aber er ende mit einem »Gute-Nacht-Kuss«. Dazwischen sorgten die Mitarbeiter für eine familiäre Atmosphäre, bei Bedarf gebe es individuelle Therapien.
»Wir laden Sie ein, sich an dieser besonderen Arbeit zu beteiligen, der Kinder zuliebe, die auch ihre Kinder sind – die Kinder von Am Yisrael.« So steht es in den Informationsheften des »Bet Elazraki Children’s Home«, die Apel bereitgelegt hat.
Zukunftsorientiert Ihm gefällt das zukunftsorientierte Konzept der Einrichtung. Viele Kinder werden dort bis in die Volljährigkeit begleitet – oft bis sie ihre eigenen Kinder aufziehen. Denn das erklärte Ziel des Heims ist, durch liebevolle Erziehung und Bildung den »Teufelskreis aus Kummer, Gewalt und Armut« zu durchbrechen. Das hat natürlich seinen Preis: 3000 Dollar pro Jahr für jedes Kind.
»Man muss Verantwortung übernehmen und selbst aktiv werden«, sagt der Dortmunder Rabbiner vor seinen Gästen, man dürfe sich nicht auf die Bereitschaft anderer verlassen. »Danke, dass Sie Ihr Herz geöffnet haben, um den Kindern zu helfen!«, fügt er hinzu. Sodann macht er die Bühne frei für »den musikalischen Rahmen«: Sharon Brauner und Band. Eine gute Wahl. Geht auch nicht jedes Besteckgeklapper unter in den jiddischen und russischen Liedern, so flutet Brauners Stimme den ansatzweise zu großen Raum bis unter das Dach.
»Jiddisch wird ja als Muttersprache immer leiser«, erzählt die Berliner Sängerin im Anschluss, »aber es lebt in den Liedern weiter, denn Lieder sind Erinnerungen.« Den »mehr zufällig Anwesenden« erklärt sie kurz die Geschichte der Sprache: »Sie hat ihren Ursprung im deutschen Sprachraum des Mittelalters. Als die Juden aufgrund von Pogromen in den Osten Europas ausgewandert sind, haben sie die Sprache mitgenommen. Über die Jahrhunderte sind slawische und hebräische Ausdrücke hinzugekommen.« Später habe sie den Weg in die deutsche Umgangssprache geschafft, erzählt Brauner: »Abnippeln, Kies, beschickert sein oder mit der gesamten Mischpoche total meschugge ‹n Schlamassel erleben.«
Damit schlägt sie unbeabsichtigt die Brücke zum Anlass des Abends: zu den Kindern in Netanya, deren prekäre Lebenssituation kaum schlimmer sein könnte. Denen dieser Abend helfen soll, »aus der Asche ihrer kaputten Elternhäuser zu steigen«. Teilweise stammten »drei bis sechs Kinder aus einer einzigen Familie«, berichtet Avichai Apel. Ihnen stelle sich vorrangig die Frage: »Wie komme ich in ein anderes Leben?«
angereist Mit dem Verlauf des »Gala-Dinners« ist Apel »sehr zufrieden«. Nicht nur seine Erwartung hinsichtlich der Gästezahl wurde erfüllt, trotz der hohen Mindestspende wären überdies überraschend viele junge Leute gekommen. Und selbst aus den umliegenden Gemeinden wie Paderborn, Essen und Recklinghausen seien Besucher angereist.
Ein Mann raunt ihm gegen Ende der Veranstaltung zu: »Erst fand ich ja 100 Euro für ein Drei-Gänge-Menü sehr viel, aber Sie haben den Abend gut gestaltet!« Rabbiner Apel lächelt.
»Zu viel Geld verdirbt den Charakter, zu viel Liebe kann erdrücken, zu viel Gesundheit lässt einen jeden und alles überleben, was man jemals geliebt hat, und zu viel Verstand macht wahnsinnig«, schließt Sharon Brauner. »Das Einzige, von dem man wohl nie genug haben kann, ist: das Glück.«