Wie immer beginnt die Geschichte auf der Abschussrampe», scherzt Rabbiner Yitzchak Mendel Wagner und meint eigentlich das Dach, auf das er zeigt. Auf den ersten Blick sieht es ganz normal aus – mit gewöhnlichen Aluminiumplatten und stinknormalen Regenrinnen. Doch wer genauer hinguckt und sich vielleicht auch noch auskennt, sieht: Es ist ein Meisterwerk des religiösen Handwerks – es ist eine Konzeption, die zur Mikwe im Keller führt. Die Treppen des Krefelder Gemeindezentrums hinunter, durch die Tür in einen kleinen Vorraum der Mikwe, des Ritualbads.
Unter den Böden, auf denen oben in der Synagoge und den Gemeinderäumen gebetet, gefeiert und getrauert wird, befindet sich ein Bereich, der für die verheiratete jüdische Frau einer der intimsten Orte abseits des Schlafzimmers ist. Aus dem kleinen Vorraum mit Dusche, Handtüchern und allen zum Duschen nötigen Utensilien gelangt man zur Mikwe. Mitten im Raum ein kleines Schwimmbecken – gefüllt mit Regenwasser, das vom Dach über die Rohre hierhin gelangt.
«In dem Moment, wenn das Wasser vom Himmel runterkommt, darf es auf seinem Weg in dieses Becken nicht mehr aufgehalten werden», erklärt der Rabbiner, «deshalb dürfen die Wasserrohre keine Knicke haben. Und die Schrauben in den Rohren haben eine Silikonverkleidung, damit das Wasser dort problemlos vorbeifließen kann.» Fließend muss das Wasser also sein, sonst ist die ganze Mikwe dahin – sie wäre dann unkoscher.
Hygienestandards Auf alles wird hier geachtet – vor allem darauf, dass die Mikwe koscher ist. Doch auch Hygienestandards müssen eingehalten werden: pH-Werte werden regelmäßig ins Labor eingeschickt und überprüft, das Wasser wird nach Vorschrift gereinigt, auf die Sauberkeit des Wassers wird großer Wert gelegt. «Man könnte es eigentlich auch als Trinkwasser benutzen», sagt Yitzchak Mendel Wagner und lacht.
«Das Wasser steht für die Wiedergeburt», erklärt der Rabbiner die spirituelle Bedeutung, «es ist ein ganz besonderer Lebensraum – einer, in dem man eigentlich nicht überleben kann, zumindest auf Dauer.» Gleichzeitig aber beginnt im Wasser das menschliche Leben – im Uterus der Mutter, im Fruchtwasser.
Dies erklärt zumindest zum Teil, warum der Besuch der Mikwe für die Frau eine so wichtige Bedeutung im Judentum hat. Nach jeder Menstruation ist der Besuch der Mikwe eine Mizwa. «Die Mikwe ist ein Abschluss und gleichzeitig ein Neubeginn», erklärt Rachel Wagner, die Frau des Rabbiners. «Sie krönt die vergangene Zeit innerhalb der Ehe. Und nach einer tagelangen körperlichen Trennung von Ehemann und Ehefrau ist es auch ein Neubeginn.»
Ehre Rebbetzin Wagner betreut die Frauen bei ihrem Gang in die Mikwe. Sie versucht, es ihnen jedes Mal so angenehm wie möglich zu machen. «Für mich ist es eine Ehre, die Frauen dabei zu begleiten», sagt sie, «ich vollbringe damit auch eine gute Tat, trage einen kleinen Teil zum menschlichen Lebenszyklus bei.» Denn die Mikwe hat eine große spirituelle Bedeutung für das Entstehen von neuem Leben. Erst wenn die Ehefrau die Mikwe besucht hat, ist der Weg frei für den körperliche Kontakt zwischen den beiden Ehepartnern.
Einen ganz besonderen Beitrag zum Bau der Krefelder Mikwe hat auch der heutige Vorstandsvorsitzende der Gemeinde, Michael Gilad, geleistet. Als das Gemeindezentrum 2008 gebaut wurde, setzte er sich dafür ein, dass bereits beim Rohbau die entsprechenden baulichen Vorarbeiten für eine spätere Mikwe ausgeführt wurden. «Hätten wir damals nicht die Idee gehabt, würde diese Mikwe heute wahrscheinlich nicht existieren», sagt Gilad. «Mir war das wichtig, dass hier in Krefeld früher oder später eine Mikwe entsteht, darauf habe ich damals Wert gelegt und tue es auch heute.»
Rabbiner Yitzchak Mendel Wagner setzte bei einem Treffen des Rabbinical Centre of Europe (RCE) in Paris dann die Idee Gilads in die Tat um. Insgesamt 25 Gemeinden europaweit bekamen vom RCE Zuschussgelder für ihre Mikwen. «24 Städte wurden vorgelesen», erinnert sich Wagner an diesen Moment, «bei Nummer 25 traute ich mich dann, sprang auf und rief ›Krefeld!‹ in die Runde. Danach war die Sache entschieden: Die Mittel für die 25. Mikwe gingen an uns.»
Antwerpen Inzwischen kommen viele Frauen nicht nur aus Krefeld, sondern auch aus den umliegenden Städten hierher, um diese Mizwa zu erfüllen. «Früher», erzählt Rabbi Wagner, «mussten die Frauen aus unserer Region zum Beispiel nach Antwerpen. Das ist ein langer Weg.» Dabei muss man auch bedenken, dass das Betreten der Mikwe erst nach Sonnenuntergang erlaubt ist.
Nichtsdestoweniger haben die religiösen Frauen diese Strapazen auf sich genommen. Inzwischen kommt jede Woche mindestens eine Frau, manchmal auch mehrere, in die Krefelder Mikwe. Und es werden tendenziell immer mehr. Der Rabbiner und seine Frau sind stolz, den Menschen so viel jüdisches Leben in ihrer Stadt bieten zu können.
Ein jüdisch-religiöses Leben bedeutet aber auch, viele Gebote und Verbote einzuhalten, Bräuche zu befolgen, Tradition zu leben. Häufig entstehen dabei Fragen über Fragen, Gespräche und Diskussionen – auch über die Mikwe. Rebbetzin Rachel Wagner ist hin und wieder mit solchen Situationen konfrontiert: «Ich wundere mich oft über Frauen, die sagen ›Wir müssen in die Mikwe, nur weil wir keine Männer, sondern Frauen sind‹.»
Dem widerspricht Rachel Wagner. Eine Frau besitzt diese eine, besondere Kraft, sagt sie: Oft reiche nur ein Blick, eine Geste, ein Spruch, um den Mann zum Handeln zu bewegen. Frauen seien besonders heilige Geschöpfe. Und das Besondere brauche eben die besondere Pflege – die Mikwe.