Ich bin in Israel geboren und aufgewachsen, bis ich sechs Jahre alt war. Dann zog meine Familie 1979 mit uns nach Deutschland, nach Minden. Das war ein Kulturschock. Mein Vater ist gebürtiger deutscher Jude, die Familie meiner Mutter stammt aus Holland. Mein Großvater mütterlicherseits hatte damals den Traum, eine Stadt in Israel mitaufzubauen, das war Aschdod. Er war überzeugter Zionist und hätte es nie zugelassen, dass wir nach Deutschland ziehen. Aber er war zwei Jahre zuvor gestorben.
Ich blieb zehn Jahre in Minden, aber ich habe mich dort nie wohlgefühlt. Ich kam mir vor wie im falschen Film. Mit acht Jahren wurde mir bewusst, dass ich im Land des Holocaust lebte. Das zu verdauen, war ein echter Brocken für mich. Wir wohnten im Gebäude der Mindener Synagoge, da hing außen ein Davidstern über dem Eingang. Nachts standen manchmal Gruppen vor der Tür und riefen Hassparolen wie: »Schade, dass sie euch nicht alle umgebracht haben.« Und es gab Situationen, in denen man mich »Scheißjüdin« nannte. Mit 16 hatte ich genug. Ich musste weg. Also ging ich zurück nach Israel und zog in den Kibbuz meiner Tante.
Kindheit Die Mentalität in Deutschland und Israel ist unterschiedlich wie Tag und Nacht. Besonders der Umgang mit Kindern ist anders. In Israel hatte ich eine glückliche Kindheit, hatte die Familie um mich herum und durfte auf der Straße spielen. Das hat natürlich dazu geführt, dass ich die ersten sechs Jahre meines Lebens im Nachhinein glorifiziert habe. Diese goldene Kindheit wollte ich in Israel wiederfinden – und musste feststellen, dass das Land doch sehr anders war als in meiner Fantasiewelt. Es war eine bittere Erfahrung für mich, in Israel als »die Deutsche« gesehen zu werden. Ich gehörte weder hierhin noch dorthin – dabei ist es doch schön, wenn man beide Welten in sich vereinen kann.
Als ich mit 18 nach Deutschland zurückkehrte, fehlten mir noch drei, vier Monate zum Abschluss, aber keine Schule wollte mich für diese kurze Zeit aufnehmen. Schließlich fand ich doch eine und machte dort meinen Realschulabschluss. Aber lange hielt es mich nicht in Minden.
Der zweite Versuch, nach Israel zu ziehen, war 1996 mit meinem damaligen israelischen Mann. Ich wurde jedoch schwer krank, und wir trennten uns, sodass ich drei Jahre später wiederum zurück nach Deutschland zog. Dort musste ich ein weiteres Mal bei null anfangen und mir eine Existenz aufbauen.
Ausbildung Ich habe in meinem Leben schon viele Jobs gehabt: bei der Sicherheit der israelischen Airline EL AL, in Cafés und in einem Kinderhort. Später habe ich eine Grafikschule besucht. In Hamburg kam dann noch eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin dazu, mit Schwerpunkt Wirtschaftsenglisch und -spanisch. Als ich damit fertig war, gab der Arzt grünes Licht, dass ich doch Kinder bekommen darf, was nach meiner Krankheit lange Zeit unklar war. Ich bin dann mit meinem damaligen Freund relativ schnell schwanger geworden und habe nie einen richtigen Einstieg in den Beruf gefunden, den ich erlernt hatte.
Dass ich inzwischen sehr geerdet bin, hat viel mit meinem inzwischen elfjährigen Sohn zu tun. Ich versuchte, mich in Hamburg selbstständig zu machen und israelische Events zu organisieren – aber mein Sohn wurde direkt nach der Eröffnung krank, und mir war klar, dass es nicht geht. Ich bin ja alleinerziehend, und das hätte wieder eine Unruhe in mein Leben gebracht, die ich überhaupt nicht gebrauchen kann. Zum Glück kam damals das Jobangebot von der Schule, wo ich heute noch arbeite.
mutter Es war mir sehr wichtig, dass mein Sohn eine Basis bekommt und es ihm nicht so ergeht wie mir als Kind – dass er sich nicht schämt oder komisch fühlt, jüdisch zu sein. Ab seinem zweiten Lebensjahr ging er in den jüdischen Kindergarten, danach in die Vorschule. Er gehört zu den zwölf Kindern der ersten Generation der Josef-Carlebach-Schule, und ich war seit der Schulgründung 2007 als engagierte Mutter beteiligt.
Als die damalige Sekretärin mitten in der Anmeldephase schwanger wurde, bin ich zunächst als Telefonistin eingesprungen, aber es war schnell klar, dass ein paar Stunden nicht reichen, und so hatte ich vier Monate später mein offizielles Vorstellungsgespräch.
Inzwischen gehören alle komplexen Bereiche einer Privatschule zu meinen Aufgaben: administrative Tätigkeiten, Kommunikation mit der Schulbehörde, Kontakt zu Eltern und anderen Schulen. Aber die Kinder stehen für mich immer im Vordergrund. Gerade heute, wo alles so schnelllebig ist und die Schüler so viel Druck haben, möchte ich, dass sie auch Kind sein können und Spaß an der Schule haben. Vor zwei Jahren bekam ich ein Jobangebot aus Israel und habe meinen Sohn ganz vorsichtig gefragt, ob er sich vorstellen könnte, dort zu leben. Da sagte er: »Ja – aber nur, wenn meine Schule mitkommt.« Das ist doch toll!
Regeln Wenn Eltern ihre Kinder an unserer Schule anmelden wollen oder sich erkundigen, erkläre ich ihnen, dass es eine jüdische Schule ist, an der auch bestimmte Regeln gelten und wo eben nicht der Osterhase herumhoppelt oder der Weihnachtsmann kommt. Das macht es ihnen immer ganz gut begreiflich. Diejenigen, die dann ihre Kinder tatsächlich anmelden, entscheiden sich bewusst dafür. Dadurch, dass mein eigener Sohn von Beginn an dabei war, kann ich glaubhaft vermitteln, was diese Schule ausmacht. Denn nach dem vielen Hin und Her in meinem Leben erlebt er hier das, was ich als Kind nie hatte, und das ist einfach großartig. Er muss sich nicht anders fühlen, er kann stolz darauf sein, wer er ist, und im besten Fall macht er hier später sein Abitur mit Kindern, die er seit dem Kindergarten kennt.
Die Schule wächst ja momentan noch mit den Kindern. Der Aufbau ist Pionierarbeit, und unser Schulleiter sagt immer, dass der erste Jahrgang der schwerste ist – wir müssen noch viel leisten, bis die mal irgendwann ihre Abschlusszeugnisse in den Händen halten.
schreibkram Der Umgang der Kinder miteinander ist süß und familiär. Ich freue mich immer, wenn sie zu mir ins Büro kommen und mich ein bisschen von dem Schreibkram ablenken. Auch die Tatsache, dass die Kinder morgens gemeinsam beten – egal, woran sie glauben –, einfach als Ritual, sich zu bedanken dafür, dass sie da sind, ganz und gesund, finde ich wirklich schön. Es berührt mich, wenn ich das morgens im Speisesaal sehe.
Ich bin den ganzen Tag im Büro und kenne deshalb alle Kinder recht gut. Es gibt immer sehr viel zu tun, sodass ich mir manchmal nach drei Stunden vorkomme, als läge schon ein achtstündiger Arbeitstag hinter mir. Ständig ist etwas in Bewegung, und den Tag im Voraus zu planen, geht eigentlich gar nicht, weil immer wieder etwas Überraschendes passiert. Eine Woche oder auch ein ganzes Schuljahr vergehen so schnell! Kaum dreht man sich einmal um, ist schon wieder eine Woche vorbei. Deshalb genieße ich es auch, mich in meiner Freizeit einfach zu erholen – für Hobbys habe ich keine Zeit.
Ich gehe nicht mehr viel aus, aber treffe mich gerne abends zum Kochen mit Freunden. Ich fühle mich sehr wohl in unserem Stadtteil. Da treffe ich alle fünf Minuten jemanden auf der Straße. Mein Sohn ist dort aufgewachsen, er hat seine Freunde da, und ich habe mein Stammcafé. All das bedeutet für mich ganz viel Lebensqualität.
Aufgezeichnet von Moritz Piehler