Frau Süsskind, nach vier Jahren als Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin haben Sie sich entschlossen, nicht mehr zu kandidieren. Nun wurde vor fast zwei Wochen neu gewählt. Gideon Joffe hat mit seinem Bündnis die meisten Stimmen erhalten. Wie bewerten Sie das Ergebnis?
Ich bin, ehrlich gesagt, sehr unzufrieden.
Jetzt wird, wie vor vier Jahren auch, die Wahl angefochten. Was sagen Sie dazu?
Dazu fällt mir nichts mehr ein. Außer: Wir sind und bleiben ein Tollhaus.
Was sind die wichtigsten Aufgaben, die der neue Vorstand in die Hand nehmen muss?
Wir haben für vieles die Weichen gestellt. Auf jeden Fall muss die Gemeinde saniert werden. Wir wissen, welche Gelder wir zu zahlen haben.
Damit meinen Sie die sechs Millionen Euro an den Berliner Senat?
Nicht nur. Es war uns bewusst, dass wir sparen müssen, und wir haben an dieser Stelle auch schon angefangen. Wo immer wir den Rotstift ansetzten, ist uns während der vier Jahre großer Unmut entgegengekommen. Angefangen damit, dass wir das Schulgeld erhöht haben, dass wir das Jewish Film Festival und auch den Sportverein Makkabi nicht mehr finanziert haben. Dass wir zur Empörung der Clubs Gelder streichen mussten.
Können Sie das Verhalten nachvollziehen?
Meistens waren die Reaktionen ungefähr so: »Früher gab es das immer, heute nicht mehr«. Man kann aber nicht in den Wahlkampf ziehen und sagen: Es bleibt alles beim Alten. Es wird nicht an den Renten, nicht an den Geldern der Clubs gerüttelt. Ich verstehe, dass Menschen das glauben wollen. Allerdings kann ich nicht nachvollziehen, dass unsere Mitglieder nicht begriffen haben, wo wir stehen. Wir haben so oft zu erklären versucht, auch auf drastische Weise, dass wir nichts haben. Wenn die Gemeinde kein Geld mehr zur Verfügung hat, kann man auch nichts ausgeben.
Das klingt nach Realitätsverlust.
Bis vor Kurzem hat unsere Gemeinde das Geld nicht so vorsichtig ausgegeben. In dem Glauben, dass es schon irgendwie weitergehen wird. Nicht wissend, dass zum Beispiel fortlaufend Renten gezahlt werden müssen. Erst wir haben diesen Aspekt berücksichtigt. Und jetzt heißt es, wir hätten mit dem Gemeindegeld geschludert.
Und wie soll es weitergehen?
Mit den Rentenforderungen und den Rückzahlungen kommt einiges auf die Gemeinde zu. Ohne Hilfe von außen wird das überhaupt nicht zu bewerkstelligen sein. Fest steht: Auch der nächste Vorstand muss den Gürtel enger schnallen.
Die Wahlbeteiligung war mit 27 Prozent sehr gering. Wie erklären Sie sich, dass so wenige Interesse am politischen Geschehen haben?
Zuerst einmal: Für mich sind die 27 Prozent ein Schock. Wenn man die Möglichkeit hat, etwas zu entscheiden – egal, ob man in der Gemeinde groß geworden ist oder nicht – sollte man diese Chance doch nutzen. Jetzt zu meckern, bringt nichts. Dann müssen sich die Menschen aber auch nicht wundern, dass der, der das meiste verspricht, auch die meisten Stimmen bekommt.
Aber woher kommt denn das offensichtliche Desinteresse?
Ich kann mir das nicht erklären. Dieses Mal sind offenbar wirklich nur die zur Wahl gegangen, die sich nach den alten Zeiten zurückgesehnt haben. Wir haben ja versucht, Menschen für die Wahl zu motivieren. Vielleicht war das auch von meiner Seite nicht genug. Aber man muss doch selbst ein demokratisches Verständnis haben, dass man auch ohne Extraeinladung zur Wahl geht.
Sind Sie denn nach vier Jahren als Gemeindechefin mit Ihrer Arbeit zufrieden?
Ja, wir waren glücklich, dass während dieser vier Jahre nichts Negatives über die Jüdische Gemeinde geschrieben wurde. Wir hatten interreligiöse Gespräche, haben uns für Minderheiten eingesetzt, und vieles mehr. Ich bekomme auch positives Feedback von Menschen, die nicht in der Gemeinde sind. Und dann sage ich mir: Ja, vieles war gut.
Welches Erlebnis ist Ihnen denn besonders in Erinnerung geblieben?
Ach, eigentlich alles. Nicht nur das Gute, sondern auch das Schlechte. Aber für mich persönlich war es gut, dass ich mich für die jüdische Gemeinde einbringen konnte. Für meine Gemeinde, in der ich groß geworden bin. Das Schönste ist, dass mein Team und ich vier Jahre lang gut miteinander arbeiten konnten.
Und wovon waren Sie eher enttäuscht?
Dass leider manchmal Neid und Häme in der Gemeinde herrschen. Kaum sind wir nicht mehr da, scheinen die gleichen Schlammschlachten wir früher anzufangen: in Form von E-Mails und Gerüchten.
Was hätten Ihr Team und Sie anders oder besser machen können?
Ich habe eines gelernt: Man darf in dieser Gemeinde nicht zu nett sein. Ich habe immer versucht, allen den gleichen Respekt entgegenzubringen, aber Höflichkeit scheint hier nicht immer opportun zu sein. Wenn man nett und zuvorkommend ist, gilt das als Schwäche.
Haben diese vier Jahre Sie auch persönlich verändert?
Nein, Gott sei Dank überhaupt nicht. Ich bin die Alte geblieben. So wie ich erzogen wurde, wofür ich meinen Eltern sehr dankbar bin. Denn sie haben mir beigebracht: Wenn du mehr hast, dann gibst du anderen davon etwas ab. Ich bin nicht mit dem goldenen Löffel geboren worden. Es gab Zeiten, in denen hatten wir kaum etwas zu essen. Und wenn wir etwas hatten, dann haben wir Gäste eingeladen.
Sie sind oft angegriffen worden. Hatten Sie mal einen Moment, in dem Sie gesagt haben: Jetzt schmeiße ich alles hin?
Nein, niemals.
Haben Sie es bereut, nicht mehr kandidiert zu haben?
Als ich das Ergebnis gesehen habe, dachte ich: Wärst du doch mit deinem Team angetreten. Aber mein Mann sagte zu Recht: Was wäre nach diesen weiteren vier Jahren gewesen? Nein, meine Entscheidung war richtig. Ich verfolge aber alles und habe große Befürchtungen, dass die Gemeinde wieder dahin zurückfällt, wo sie nicht hingehört.
Welchen Rat geben Sie Ihrem Nachfolger mit auf den Weg?
Er soll ehrlich sein. Nicht nur sich, auch seinen Gemeindemitgliedern gegenüber. Ehrlichkeit tut manchmal weh, sie ist nicht immer gefragt, aber das müssen wir bieten.
Wie wird es für Sie weitergehen?
Ich habe vier schöne Angebote, die ich alle ganz wunderbar finde. Aber ich habe allen gesagt, die mich locken wollen: Gebt mir ein halbes Jahr. Ich brauche erst einmal ein bisschen Zeit für meine Familie. Ich werde selbstverständlich bei unseren Ehrenamtlichen mitmachen. Wir haben zu wenige Menschen, die sich um andere kümmern. Die Frauen und Männer, die sich in der Sozialabteilung engagieren, leisten eine extrem wichtige Arbeit, ohne Wenn und Aber.
Was erwarten Sie von Gemeindemitgliedern zwischen 20 und 35 Jahren?
Gerade die sind dabei, sich wieder mehr einzubringen. Das Jugendzentrum läuft gut. Ich hoffe, es wird mit einem neuen Leiter auch weiterhin so sein. Die Studenten sind endlich mal wieder aufgewacht. Und auf dem Jugendkongress in Weimar habe ich so viele tolle Jugendliche erlebt, die jede Menge spannende Ideen hatten. Jugendliche sind interessiert, und da tut sich viel. Man muss sich dem nur öffnen. Auch wenn man im Glauben unterschiedlicher Ansicht ist. Fakt ist aber: Auch die Orthodoxie hat eine Menge zu bieten. Wenn man sich Lauder mit der Jeschiwa, auch für Frauen, ansieht oder Chabad. In unserer Gemeinde haben wir von ultraliberal bis ultraorthodox alles, und das macht uns aus – die Vielfältigkeit im Judentum.
Das Gespräch führten Katrin Richter und Christine Schmitt.