Herr Rabbiner, nach sechs Jahren verlassen Sie die Kölner Synagogen-Gemeinde. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Eine wunderbare Zeit, die unsere Erwartungen übertroffen hat, mit denen wir 2008 hierhergekommen sind. Meine Familie und ich haben viele und tiefe Kontakte aufgebaut und erfahren. Seit Bekanntwerden meines Weggangs erlebe ich es immer wieder, dass Gemeindemitglieder mit Tränen in den Augen auf mich zukommen und sich verabschieden. Das sind mitunter Menschen, von denen ich gar nicht so eine Reaktion erwartet hätte. Solche Zeichen nehme ich mit großer Dankbarkeit, aber auch mit Wehmut auf. Es hat sich insgesamt eine Vielzahl zwischenmenschlicher Beziehungen und eine sehr vertrauensvolle, zum Teil höchst intensive Zusammenarbeit ergeben.
Was ist aus dieser Zusammenarbeit entstanden?
Da gibt es beispielsweise das über sechs Jahre bestehende Morascha-Programm für Studenten, die regelmäßig jeden Sonntag zu einem mehrstündigen Torastudium in die Gemeinde kommen. Außerdem Bikkur Cholim, die Besuche und die Betreuung von Alten und Kranken, insbesondere an den jüdischen Feiertagen. Zusätzlich haben wir die Kinderbetreuung während der Schabbat-Gottesdienste installiert. Es gibt die Drei-Rabbiner-Seminare. Außerdem haben wir einen Assistenzrabbiner etabliert, vor allem für unsere Gemeindemitglieder in den Kölner Stadtteilen Porz und Chorweiler. Vieles funktioniert, ohne dass ich dabei sein muss. Ich habe es stets als besonderes Glück empfunden, wie viele Menschen sich einbringen und Aktivitäten wirksam unterstützen.
Wie wird die Synagogen-Gemeinde von außen wahrgenommen? Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?
Die Gemeinde pflegt ein offenes Verhältnis nach außen und unterhält sehr gute Kontakte, sowohl auf stadtpolitischer und interreligiöser Ebene, als auch durch die zahlreichen Synagogenführungen, die mehrfach täglich stattfinden und für jeden zugänglich sind. Vor allem an den interreligiösen Kontakten, insbesondere zu den beiden großen Kirchen, habe ich regen Anteil genommen und bin dabei auch sehr viel gutem Willen und starkem Engagement für die jüdischen Belange und den gemeinsamen Dialog begegnet.
Sie haben sich auch sehr in der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD) engagiert.
Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich einen Teil dazu beitragen konnte, dass die ORD heute sehr stark aufgestellt ist und eine innere Einheit darstellt, die nicht selbstverständlich ist. Ich bin seinerzeit als 15. Mitglied hinzugekommen, nun sind es über 50 Mitglieder. Darunter sind viele aktive Rabbiner, die daran mitwirken, die nationale und internationale Bedeutung und Anerkennung der ORD auszubauen.
Wie haben Sie das Judentum und den Umgang damit in Deutschland erlebt?
Einerseits gibt es Anlass zur Sorge. In den vergangenen Jahren haben sich, nicht zuletzt durch die zum Teil sehr einseitige mediale Berichterstattung über den Nahost-Konflikt, immer wieder antisemitische Tendenzen aufgetan und verfestigt. Andererseits gibt es von verschiedenen und auch anerkannten Personen und Institutionen klare und Mut machende Bekenntnisse zum Judentum in Deutschland. Gerade in aktuellen Debatten und stürmischen Zeiten spielen diese Stimmen eine bedeutende Rolle für das Wohlbefinden der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und werden hoffentlich noch stärker in die gesamte Gesellschaft hinein wirken können.
Was hätten Sie gerne noch verwirklicht oder angestoßen?
Grundsätzlich glaube ich, dass vieles auf einem guten Weg ist, das jüdische Leben in Köln zu verankern, und dass die Gemeinde auch in Zukunft zusammenhält und sich weiterentwickelt. Sichtbar könnte dies beispielsweise in dem Bemühen werden, sich in Köln für den Aufbau eines jüdischen Gymnasiums einzusetzen.
Es wird kolportiert, dass das Fehlen eines solchen Gymnasiums für Sie und Ihre Familie der Grund sei, Köln zu verlassen und nach Israel zu gehen.
Das ist nur ein Teil der Wahrheit. Wie sieht die ganze Wahrheit aus? Der Entschluss, nach Israel zu gehen, ist etwa ein Jahr lang vorbereitet worden. Sehen Sie: Es ist eine Rückkehr. Meine Frau und ich sind ja von Israel nach Aachen gegangen, dann nach Köln. Schon immer wollten wir nach Israel zurück. Seit meinem elften Lebensjahr – ich lebte damals noch in der Schweiz, wo ich geboren wurde, und ging da zur Schule – habe ich den Wunsch, in unserer Heimat Israel zu leben. Das ist eine freie Entscheidung und Teil unserer zionistischen Überzeugung. Wäre unsere Entscheidung bloß durch die Geschichte oder Politik erzwungen, hätten wir etwas falsch gemacht, denn dann wäre es keine freie Entscheidung mehr.
Wie hat die Gemeinde auf Ihren Entschluss reagiert? Gab es Versuche, Sie zu überreden, nicht zu gehen?
Es gab nur sehr wenige kritische Stimmen. Ein Gemeindemitglied meinte, dass der Kapitän als Letzter das Schiff verlässt ... Es ist ja nicht so, dass ein Rabbiner bis zu seinem Lebensende in einer Gemeinde zu bleiben hat. Auch in Köln hat es immer wieder Wechsel gegeben. Grundsätzlich gibt es sehr viel Verständnis für meinen Entschluss. Auch von der Gemeindeleitung ist er mit Respekt aufgenommen worden. Sie hätte es zwar gerne gesehen, dass ich bleibe; aber sie hat mir und meiner Familie zugleich ihre Unterstützung für den Wechsel zugesagt. Lassen Sie mich an dieser Stelle deutlich betonen: Meine Tätigkeiten in Aachen und Köln waren nie Mittel zum Zweck, um eine Position in Israel zu bekommen. In beiden Gemeinden ging es mir stets um die Gemeinden und ihre Menschen. In Aachen und Köln habe ich Pakete schnüren können, die stets in meinem Herzen bleiben werden.
Was werden Sie in Israel tun?
Ich übernehme eine Gemeinde in Karmiel, einer stark von Einwanderern geprägten Stadt. Es geht darum, Strukturen zu schaffen und die Angebote der Gemeinde zu entwickeln. Diese Aufgabe wird eine große Herausforderung.
Haben Sie einen Rat für Ihren Nachfolger?
Da halte ich mich zurück, denn der neue Rabbiner soll von meinen persönlichen Meinungen und Ansichten unbeeinflusst und unvoreingenommen an die Gemeinde herangehen. Natürlich hoffe ich, dass die in den vergangenen Jahren im Rabbinat entstandenen Projekte erfolgreich weitergeführt werden. Gleichzeitig wünsche ich meinem Nachfolger, dass er sich mit seinen eigenen Stärken einbringen und das große Potenzial dieser wunderbaren Gemeinde optimal weiterentwickeln kann, und dass er rasch gut aufgenommen und angenommen wird.
Mit dem scheidenden Gemeinderabbiner sprachen Ulrike und Constantin von Hoensbroech.
Jaron Engelmayer
wurde 1976 in Zürich geboren, wo er auch das Gymnasium besuchte. Ab 1996 lernte er an der Jeschiwat Birkat Mosche in Ma’ale Adumim und erhielt 2002 seine Smicha. Sie trägt die Unterschriften der beiden damals amtierenden Oberrabbiner von Israel, Bakshi Doron und Meir Lau. 2004 schloss Engelmayer sein Pädagogikstudium ab und arbeitete als Lehrer an der Lauder-Midrascha in Frankfurt, bis er 2005 Rabbiner in Aachen wurde. 2008 ging er nach Köln. Von 2008 bis 2012 war er Vorstandsmitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD) und danach Mitglied des ORD-Vorstandsbeirats. Ende Januar verlässt Engelmayer die Synagogen-Gemeinde Köln und zieht nach Israel. Dort übernimmt der verheiratete Vater von vier Kindern eine Gemeinde in Karmiel.