Das NS-Dokumentationszentrum in der Brienner Straße hat sich zu einem regelrechten Publikumsmagneten entwickelt. In rund zwei Wochen, am 30. April, jährt sich die Eröffnung des Hauses zum ersten Mal, doch schon jetzt konnte der 200.000. Besucher begrüßt werden. Das große Interesse, das die Erwartungen deutlich übertroffen hat, liegt auch an den wechselnden Sonderausstellungen, die viel Resonanz hervorrufen. Gerade hat eine neue Schau begonnen: »Erfasst, verfolgt, vernichtet. Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus«.
IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch, die sich die Ausstellung so bald wie möglich in aller Ruhe ansehen wird, betont immer wieder, wie wichtig die Erinnerung und Aufarbeitung dieses besonders schlimmen Kapitels der Geschichte sei. Der Begriff »unwertes Leben«, der untrennbar mit der »Euthanasie« verbunden ist, sei geradezu ein Synonym für die Ideologie der Nazis gewesen. »In München wurden 3000 Behinderte und kranke Menschen ermordet. Jedes einzelne Opfer ist eine Tragödie, keines darf vergessen werden«, so Knobloch.
botschaft In der Vergangenheit, in der Erinnerung zu leben, reicht nach Überzeugung der IKG-Präsidentin allerdings nicht aus. »Die gewachsene und gute Erinnerungskultur, die wir in München pflegen, lebt von der Erkenntnis, dass Ziel unserer Anstrengungen nicht sein kann, in der Vergangenheit zu verharren«, betont Knobloch. Es müsse ein Anliegen der Gesellschaft sein, aus den Lehren der Geschichte eine Botschaft für die Zukunft zu formulieren.
»Passt aufeinander auf. Wehret jedem Anfang. Toleriert keine Form der Menschenverachtung«, fordert die IKG-Präsidentin – und fügt hinzu: »Begegnet euch in gegenseitigem Respekt und auf Augenhöhe, als Menschen – ohne Ansehen von Religion, Herkunft, Geschlecht, körperlicher oder geistiger Behinderung oder sonstiger künstlicher Kriterien, die sich der Mensch erdacht hat, um einander zu differenzieren. Wir brauchen diese Kriterien nicht. Jeder Mensch ist wertvoll.«
Ähnliche Worte fand auch Alt-Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel bei der Eröffnung der Ausstellung. »Die Zwangssterilisation und Ermordung psychisch kranker und behinderter Menschen durch Ärzte«, erklärte er, »gehört zu den unfassbaren Gräueltaten der Nationalsozialisten. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis dieses Thema öffentlich bekannt und debattiert wurde. Auch deshalb ist es so wichtig, diese Ausstellung im NS-Dokumentationszentrum München zu eröffnen und über diesen Teil der NS-Geschichte aufzuklären.«
aufklärung Indem die Ausstellung die NS-Ideologie vom »unwerten Leben« thematisiert, stelle sie keine geringere Frage als die nach dem Wert des Lebens, erklärte auch Frank Schneider, ehemaliger Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Die Gesellschaft hat die Ausstellung in Zusammenarbeit mit der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der Stiftung Topographie des Terrors konzipiert. Die Schau steht unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Joachim Gauck. »Wir wollen mit der Ausstellung ein möglichst breites Publikum ansprechen«, sagte Schneider.
Für die Präsentation im NS-Dokumentationszentrum hat die Arbeitsgemeinschaft Psychiatrie und Fürsorge im Nationalsozialismus in München einen ergänzenden Teil erarbeitet, der speziell die »Euthanasie« in München und Bayern behandelt. Für die DGPPN ist die Ausstellung auch ein Stück Aufarbeitung in eigener Sache. Wie dem Ausstellungskatalog zu entnehmen ist, waren einige der Nazi-Ärzte, die an den Morden beteiligt waren, auch Mitglieder in der Fachgesellschaft, die sich heute DGPPN nennt. Vordringliches Ziel der Gesellschaft ist es heute, die Rechte von Menschen mit Behinderungen und Nervenkrankheiten besonders zu schützen.
Die Präsentation in den Räumen des NS-Dokumentationszentrums bietet eindringliches und bewegendes Material zu den Morden und thematisiert auf 69 Ausstellungstafeln und an zwei Medienstationen die Biografien von Opfern sowie den Umgang mit diesem lange Zeit tabuisierten Teil der NS-Geschichte. Ein zweisprachiger, deutsch-englischer Ausstellungskatalog sowie ein Begleitheft sind im Buchladen des NS-Dokumentationszentrums erhältlich.
medizinethik Die Ausstellung ist noch bis zum 26. Juni zu sehen und wird von mehreren Veranstaltungen begleitet. »Es war uns wichtig, neben den historischen Hintergründen der ›Euthanasie‹ auch aktuellen medizinethischen Debatten ein Forum zu geben«, sagt Winfried Nerdinger, Gründungsdirektor des Zentrums.
»Im Aufzeigen aktueller Bezüge, dem Fort- und Weiterleben von NS-Ideen, wird deutlich: Das geht mich heute noch etwas an. Dieses Bewusstsein zu schaffen, ist ein Hauptziel unserer Arbeit.«