Dieses Jahr war vielleicht das wichtigste für mich, denn ich brauchte Zeit, um eine Entscheidung zu treffen. Das Abitur hatte ich in der Tasche, den Platz für mein Freiwilliges Soziales Jahr hatte ich sicher, aber ich war noch etwas ratlos, was ich in Zukunft machen wollte. Meine Leidenschaft ist die Musik. Ich würde mich als Rapper, Sänger, Songwriter und Produzent beschreiben. Aber ist eine künstlerische Karriere zukunftssicher? Andererseits interessieren mich auch Psychologie und Betriebswirtschaftslehre.
In unserem postsowjetischen Haushalt empfahlen mir meine Eltern, mir Zeit zu lassen: Ich solle machen, was ich möchte. Also absolvierte ich erst einmal ein FSJ in einer Waldorf-Kita, was mir sehr viel Spaß brachte und mich in meiner Studienentscheidung bestärkte. Ich werde diese Zeit immer in sehr guter Erinnerung behalten, auch weil ich mich nachmittags, wenn die Kita geschlossen war, voll und ganz meiner Musik widmen konnte. So viel Zeit für die Gitarre, für das Schreiben und Produzieren von Songs hatte ich seitdem nicht mehr. Die Arbeit in der Kita mochte ich. Damals wohnte ich noch bei meinen Eltern und musste mich nicht gerade um vieles kümmern. Und ich konnte das Studio meines Vaters nutzen, der Toningenieur ist.
Meine Musik würde ich als eine Mischung aus melodischem Rap, Pop und Contemporary Rhythm and Blues mit diversen klassischen Einflüssen und modernen Elementen beschreiben.
Konservatorium Mit sechs Jahren zog mich die Gitarre an, kein Wunder, schließlich spielt mein Vater sie auch. Ich bekam Unterricht bei einem tollen Lehrer am Konservatorium, der mich nicht nur musikalisch, sondern auch menschlich prägte. Mehr als zehn Jahre lernte ich bei und mit ihm. Er legte immer sehr viel Wert auf Respekt, und er kam mir auch etwas weise vor. Ich übte viele Stunden am Tag klassische Gitarre.
Schon damals nahm ich an Wettbewerben wie »Jugend musiziert« teil, bei denen ich es bis zu den Bundeswettbewerben schaffte. Ich bin gern aufgetreten, spürte aber natürlich auch irgendwie den Druck. Nicht nur als Solist war ich dabei, sondern ich spielte auch in Trios und anderen Ensemble-Formationen. Es war cool, in fremde Städte zu reisen und dort auf der Bühne zu sitzen oder zu stehen.
Als Jugendlicher schrieb ich meine ersten Songtexte.
Als 13-Jähriger wechselte ich zu einem Gymnasium mit Musikprofil. Das hieß für mich, dass ich eine umfassende Ausbildung erhielt. Neben den allgemeinen Fächern standen bei mir auch Gehörbildung, Rhythmusdiktate und Harmonielehre auf dem Stundenplan – alles ganz nach meinem Geschmack. In der Big Band spielte ich mit der E-Gitarre Jazz und Blues, auf der Gitarre klassische Kompositionen. Drei Proben in der Woche waren normal, an den Wochenenden hatte ich Auftritte und wirkte bei Konzerten mit. Mit der Big Band unternahm ich sogar eine Konzerttournee in den USA. Es war eine sehr prägende Zeit.
Musikprogramm Ich mag das Versinken in die Musik. Aber als klassischer Gitarrist in Deutschland gibt es heutzutage nur zwei Möglichkeiten: Solist oder Lehrer. Da Ersteres eher eine brotlose Kunst ist und mittlerweile sogar die Dozenten-Stellen an den Musikhochschulen gestrichen werden, erschien es mir nicht attraktiv. Die Popakademie in Mannheim hat mich interessiert, denn ich habe ja schon einige Songs geschrieben und produziert.
Mit zwölf, 13 Jahren schrieb ich die ersten Texte. Gleichzeitig lernte ich im Studio meines Vaters, wie man ein Musikprogramm bedient, Songs aufnimmt und abmischt. Vor fünf Jahren kam mein Song »Hamsterrad« heraus, später »Wie wir uns verlieren«. Es folgten noch viele weitere.
Um mehr Zeit zu gewinnen, entschied ich mich für ein FSJ. Bis dahin hatte ich keinen Bezug zur Waldorf-Pädagogik, aber was mir gefiel, war, dass die Kinder dort lernen, Verantwortung zu übernehmen, und einen naturverbundenen Alltag durchlaufen. Es hat mir Spaß gemacht, in dem Team zu arbeiten. Und wahrscheinlich hat mich dieses Jahr auch darin bestärkt, Psychologie zu studieren. Doch vorher hatte ich noch ein langes Gespräch mit meinem Gitarrenlehrer. Gitarre ist ein introvertiertes Instrument, es hat keinen Platz im Orchester.
solistenleben Das Solistenleben wäre mit einem enormen Druck verbunden, was ich nicht möchte, denn ich will die Musik genießen und mich ihr frei widmen. Diese Perspektive war also eher suboptimal. Alle Karten lagen offen – ich entschied mich für Psychologie und bekam einen Studienplatz in Ulm. Als Nebenfach wählte ich BWL.
Mittlerweile lebe ich in Frankfurt und schreibe an meiner Bachelorarbeit. Für manche Seminare muss ich noch nach Ulm fahren, aber in der übrigen Zeit kann ich in der Mainmetropole bleiben, wo ich nach einem Praktikum in der Unternehmensberatung hängen geblieben bin.
Auslandsjahr Hier gefällt es mir gut, meine Familie, die in Karlsruhe lebt, ist nur eine Stunde entfernt, das WG-Leben bringt Spaß, und die Stadt ist einfach größer und hat ein ganz anderes Angebot, als es in Ulm der Fall ist. Ich habe bereits nach dem zweiten Semester gemerkt, dass ich mit meinem Studium nicht in die klassische klinische Richtung des Therapeuten gehen möchte, sondern in die Wirtschaft. Im Herbst werde ich wahrscheinlich meinen Abschluss haben, vielleicht strebe ich danach ein Auslandsjahr an. Mal sehen.
auslandssemester Im Bachelorstudium wollte ich bereits einmal für ein Auslandssemester in die USA, dieses Vorhaben fiel jedoch leider wegen meines ziemlich lang gezogenen Einbürgerungsprozesses ins Wasser – zum Zeitpunkt des Abflugs hatte ich meine neuen Ausweisdokumente nicht rechtzeitig erhalten. Stattdessen nahm ich ein Pflichtpraktikum im wirtschaftlichen Bereich in Berlin wahr. Später folgte ein Praktikum in Frankfurt.
Ich hatte bereits Erfahrung, mit Kindern zu arbeiten. Als kleiner Junge besuchte ich das Jugendzentrum in Karlsruhe, dort gefiel es mir so gut, dass ich auch die Madrich-Ausbildung absolvierte und ebenfalls zu den Machanot der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden (ZWST) mitfuhr. Erst als Teilnehmer, später als Madrich. In diesem Sommer werde ich bei dem Camp von JuJuBa (Jüdische Jugend Baden) als Madrich dabei sein. Es war eine schöne Zeit auf den Machanot, an die ich gern zurückdenke.
Was für mich als Kind unfassbar war, war natürlich die Jewrovision. Vor zehn Jahren stand ich mit dem Juze zum ersten Mal als Sänger auf der Bühne, später als Tänzer. Die beste Phase war, als wir – JuJuBa – zweimal in Folge den Pokal holen konnten. Jedes weitere Jahr stand ich auf der Bühne, und dieses Feeling vermisse ich nun. Bei der vergangenen Jewro habe ich die Kids von JuJuBa beim Vorstellungsvideo unterstützt, indem ich ihnen beim Song half und die Kids coachte. Den Song habe ich komponiert – und im Schrank aufgenommen, um keine Nebengeräusche auf dem Tape zu haben.
Geboren wurde ich auf der Krim. Aber als ich zwei Jahre alt war, zogen meine Familie und ich nach Deutschland.
Geboren wurde ich auf der Krim. Aber als ich zwei Jahre alt war, zogen meine Familie und ich nach Deutschland. Mein Vater spielte in seiner Jugend auf der Krim gern Gitarre und hatte eine Band mit seinen Kumpels. Damit sie sich ein Instrument leisten konnten, arbeiteten sie auf dem Acker – es waren andere Zeiten, und Dinge waren längst nicht so zugänglich wie heute. Wenn eine Saite schwächelte, kochten sie sie aus, um sie ein zweites Mal zu verwenden. Heute gehe ich in einen Laden, wenn ich eine neue brauche.
ukraine Ein paar Erinnerungen habe ich noch an meine Geburtsstadt, denn wir sind oft in den Sommerferien dorthin gefahren, bis die politische Lage schwieriger wurde. Meine Oma mütterlicherseits lebt dort noch und ist seit der Annexion russische Staatsbürgerin geworden – obwohl sie ihr ganzes Leben Ukrainerin war.
Deutsch lernte ich in der Kita. Ich fahre immer gern nach Hause zu meiner Familie und freue mich auf meine Eltern und meine beiden Schwestern. Meine jüngste ist noch keine zwei Jahre alt. Oft gehe ich mit ihr auf den Spielplatz. Das Tonstudio meines Vaters benutze ich bei meinen Besuchen nur ab und zu, denn die Zeit, in der ich in Karlsruhe bin, möchte ich für Gespräche und das Zusammensein nutzen.
Derzeit verbringe ich viel Zeit in der Bibliothek, weil ich da gut für die Uni arbeiten kann. Ich gehe ins Fitnessstudio und mache natürlich auch Musik – aber sie ist nicht mehr so dominant im Alltag, wie sie es in meiner Jugend war.
Bei der letzten Jewrovision vor Corona konnte ich mit meinem eigenen Song »Wie wir uns verlieren« auf der Bühne stehen. Dieser Moment hat sich bei mir eingebrannt, da er so toll und einzigartig war. Das würde ich gern häufiger erleben. Es wäre natürlich ein absoluter Traum, vielleicht irgendwann von meiner Leidenschaft – der Musik – leben zu können und sie zum Beruf zu machen. Doch sie auch so wie jetzt zu behalten, als Hobby und Ausgleich zum Alltag, ist mindestens genauso erfüllend und schön.
Aufgezeichnet von Christine Schmitt