Thüringen

Verjüngungskur in Erfurt

Felix J. ist 82 Jahre alt. Er kommt aus Russland. Nun sitzt er etwas verloren in einem kleinen Büro der Jüdischen Landesgemeinde, gleich neben dem Zimmer von Rabbiner Konstantin Pal. Seine Hände liegen auf einem Packen Papier. Eine hilflose Geste. Bella Slovak, die Sozialarbeiterin aus Kiew, ist fast zwei Generationen jünger als Felix J. Sie sitzt hinter dem Schreibtisch und erklärt dem Mann geduldig in russischer Sprache, warum Auslandsrente und Grundsicherung zusammengerechnet werden. Verstehen kann der russische Jude dennoch nicht, was das Sozialamt von ihm will.

Bella Slovak muss ihm helfen. Sie kennt sich aus, sie spricht Deutsch. Das Sozialamt will den Nachweis für die Rente aus der alten Heimat. Vielleicht wäre das mit einer Vollmacht möglich? Denn Felix J. kann nicht mehr nach Moskau reisen, um dort Rente zu beantragen.

Alltag Sozialamt, Arbeitsagentur, Behördendschungel – viele Menschen der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen kommen mit den Alltäglichkeiten und Paragrafen ihrer neuen Heimat nicht zurecht, obwohl die meisten mindestens seit 15 Jahren hier leben. 95 Prozent der Gemeindemitglieder wurden in Russland, der Ukraine oder in Weißrussland geboren. Andere kommen aus weiteren Republiken der ehemaligen Sowjetunion oder aus Moldawien.

Die meisten sind 70 oder älter. Hiesige Gepflogenheiten sind ihnen fremd geblieben. An einem Brett im Treppenhaus zum Büro der Gemeinde hängen fast nur russischsprachige Aushänge. Ein Zettel ist dabei, auf dem die Russisch sprechenden Ärzte der Stadt notiert sind. Andere Zettel geben Hinweise zu Veranstaltungen, Sprechstundenzeiten und einem Angebot für eine Urlaubsfahrt. Wer zu den Sozialarbeiterinnen möchte, weiß auch ohne einen Blick auf die Informationstafel, wann die drei Frauen da sind.

Irina Bolschakowa, 69, ist eine von ihnen. Ihr Deutsch ist perfekt. Sie war in Russland Deutschlehrerin. »Ich vermisse Moskau nicht. Seit ich mit 47 Jahren hierherkam, bin ich einfach nur glücklich«, sagt sie. Sie erinnert sich noch genau an den Tag ihrer Ankunft in Erfurt: »Der 1. August 1991 war eine Zäsur. Ich wollte einfach weg von dort.« Ihr Ziel hätte vielleicht auch Israel oder die USA sein können. Doch ihre Tochter hatte nach Berlin geheiratet, und Ljudmilla, eine Kollegin an der Moskauer Hochschule, war bereits vor ihr nach Erfurt gekommen. Warum also hätte sie sich anderswo niederlassen sollen?

Rat Bolschakowa ist an ihrer Art zu reden nach wie vor als Lehrerin erkennbar. »Viele Probleme entstehen doch nur deshalb, weil meine Leute nicht Deutsch sprechen«, schimpft sie. »Meine Leute«, so nennt sie die russischen, weißrussischen und ukrainischen Juden. »Ich liebe sie. Aber sie sind stressig«, lacht sie verzweifelt. Die meisten, die bei ihr Rat suchen, sind Rentner und einigermaßen hilflos in Alltagsfragen, unterschreiben überflüssige Telefonverträge und hoffen dann, dass Irina Bolschakowa es schon richten wird.

Jetzt, im Sommer, geht es in der Landesgemeinde etwas ruhiger zu als sonst. Deshalb hat Ida Fitermann auch ein wenig mehr Zeit. Sie ist Leiterin des Kultur- und Bildungszentrums. Es liegt nur Minuten von der Synagoge entfernt. Einen Steinwurf nah. Aber von Steinwürfen sollte man besser nicht reden, wenn es um die Synagoge geht. 1996 flogen tatsächlich Steine gegen die Fenster des Büros. Vier Jahre später gab es einen Brandanschlag. Seither wurde die elektronische Überwachung ausgebaut, die Fenster haben nun Panzerglas.

Ida Fitermann ist jetzt 59. In Moldawien war sie Bauingenieurin. Der Großvater war orthodox. Zu Hause hat sie gelernt, Mazzen zu backen: »Die gab es bei uns nicht zu kaufen.« Und eine Synagoge gab es auch nicht. »Dass ich im Kulturzentrum arbeiten darf, ist ein Glück«, sagt sie. Von 10 bis 18 Uhr ist das Zentrum geöffnet: »Nu, wenn es länger wird, macht das nichts.« Ida Fitermann sieht nicht auf die Uhr. Zweimal in der Woche probt der Chor, es gibt Computerkurse und Tanzgruppen, einen Deutschkurs, Kindertheater, den Schachclub, Tischtennis und die Bibliothek. Sie ist auch geöffnet, wenn der Seniorenklub einmal in der Woche zu Kaffee und Kuchen bittet. Die Bücher, die ausgeliehen werden, sind in russischer Sprache. »Schade, niemand leiht sich deutsche Bücher aus«, sagt Fitermann.

Kiddusch Langsam beginnt sie mit den Vorbereitungen für Rosch Haschana. Sie rechnet, dass 150 Menschen kommen werden am 4. September. Zum wöchentlichen Kiddusch sind es nur 40. Es wird eine riesige Feier geben. Sie freut sich darauf. Nur die Jungen, die vermisst sie. »Alle Jungen gehen weg.« Auch ihr Sohn Konstantin. Er ist 25 Jahre, war aktiv in der Gemeinde. Nach dem Studium gab es in Erfurt keinen Job für ihn. Heute lebt er in München.

Professor Reinhard Schramm ist seit knapp einem Jahr Vorsitzender der Landesgemeinde. Auch er macht sich Sorgen, dass die Gemeinde vergreist. So deutlich sagt er das nicht. Aber er will das Gemeindezentrum öffnen für alle Erfurter, damit jüdisches Leben spürbarer und sichtbarer wird in Thüringen. Gerade hat er Kontakt zu Jascha Nemtsov aufgenommen, Professor für Geschichte jüdischer Musik an der Liszt-Hochschule im benachbarten Weimar.

»Ich will ein jüdisches Festival in Weimar«, sagt Schramm. Im Herbst 2014 wird es, so sein Plan, erstmals stattfinden. Doch anders als beim »Yiddish Summer« sollen für das neue Festival Thüringer Juden zuständig sein, zusammen mit einem Kantor, den Schramm unbedingt nach Erfurt holen möchte. Noch ist der avisierte Kantor Student am Abraham Geiger Kolleg in Berlin. Doch er hat schon in der Landesgemeinde gesungen. Schön war’s, sagen sie in Thüringen. Doch bis zum Frühjahr braucht der Kandidat das Ja der Gemeinde. Sonst geht er ins Ausland. Wie der Kantor bezahlt werden soll, ist noch nicht klar.

Gespräche Reinhard Schramm war früher Informationswissenschaftler an der Universität in Ilmenau. Der 69-Jährige lebt immer noch in der Stadt nahe dem Thüringer Wald. Aber mindestens jeden Montag steht er in Erfurt für Gespräche zur Verfügung. An diesem Montag ist auch Michael Panse in der Gemeinde, CDU-Landtagsabgeordneter. Er hat sich mit Schramm verabredet. Seit Mai ist Panse Regierungsbeauftragter für das Thema Antidiskriminierung.

Dialog Doch Schramm trifft sich nicht nur mit Menschen, deren Auffassungen zu teilen leicht ist. Regelmäßig fährt er nach Weimar ins Gefängnis. Dort liest er vor jugendlichen rechtsradikalen Straftätern aus seinem Buch Ich will leben ... Es ist die Geschichte seiner Familie. Die Diskussion danach ist ihm noch wichtiger als das Lesen selbst. »Wenn die Jungen irgendwann an einem Wochenende in die rechte Ecke gezerrt wurden, muss es auch möglich sein, sie dort wieder herauszubekommen«, sagt er. Ja, es gibt Antisemitismus in Thüringen: »Genauso wie anderswo.«

An diesem ersten Montag nach seinem Ostsee-Urlaub spricht Schramm auch mit mehreren Schülerinnen aus Hildburghausen. Sie schreiben an einer Seminarfacharbeit. Ihr Thema: die Beschneidung. Dafür haben sie einen Fragebogen entwickelt, der Beschneidungen von Mädchen und Jungen miteinander vergleicht. Schramm könnte nun gekränkt sein. Oder sauer. Doch wem würde das nützen? Er füllt den Fragebogen nicht aus, sondern lädt die Schülerinnen nach Erfurt ein und nimmt sich Zeit, mit ihnen zu reden. Denn Schramm weiß: Nur Sachkenntnis schützt vor Ignoranz und falschen Schlussfolgerungen. Diese Seminarfacharbeit wird anders ausfallen, als die Schülerinnen anfangs gedacht hatten.

Alterspyramide 807 Mitglieder zählt die Jüdische Landesgemeinde Thüringen heute, 500 allein in der Landeshauptstadt. Von zwei bis 98 Jahren sind alle Altersgruppen vertreten. Doch nur 59 von 807 Mitgliedern sind jünger als 18, sehr viele aber zwischen 71 und 80 Jahre alt. »Die Atmosphäre hat sich zwar verbessert, seit der Rabbiner bei uns ist«, sagt Schramm. Doch die Altersstruktur kann auch ein Rabbi nicht verändern. Der Vorstand will nun mit Thüringer Firmen und dem Wirtschaftsministerium sprechen. Vielleicht, so die Hoffnung, entstehen dabei Ideen, wie man den Wegzug der Jungen aus dem kleinen Bundesland verhindern kann.

Unterdessen liegen auf dem Schreibtisch des Vorstandes Pläne für die Erweiterung des Jüdischen Friedhofs in Erfurt. Fördergelder dafür sind in Aussicht. 40 Gräber mehr, das reicht für die nächsten zehn Jahre. Dann wird der Friedhof voll belegt sein und eine Erweiterung anstehen. Aber darüber reden? Jetzt schon? Lieber nicht.

Michael Ritzmann ist 30. Der Erfurter Maler und Bildhauer war schon in der Synagoge und auf dem Friedhof unterwegs, als es vor der Wende kaum mehr als 20 Juden in der Stadt gab. »Ja, ich werde mal wieder in die Gemeinde gehen. Aber momentan habe ich einfach keine Zeit«, meint er. Ob es tatsächlich fehlende Zeit oder aber Unzufriedenheit ist, wird er nicht sagen. Jedenfalls nicht laut.

Uschi Ulbrich, die Sekretärin der Landesgemeinde, hat an diesem Montag Unmengen von Kaffee gekocht. Es sind viele Menschen, die in ihr Büro kommen. Der Schreibtisch quillt über. Auf dem Schrank steht eine Menora. Von sommerlicher Ruhe ist nichts zu spüren. Fast alle Besucher wollen zu Schramm: Der Ehrenvorsitzende Wolfgang Nossen, der CDU-Mann Panse, die Schülerinnen, Sozialarbeiterinnen, Gemeindemitglieder, Versicherungsvertreter und Bauarbeiter. »Ach, es ist doch schön, dass wieder so viel Leben hier ist«, sagt Ulbrich. Sie sagt es so, dass man ihr glaubt.

Felix J. ist inzwischen nach Hause gegangen. Er vertraut darauf, dass Bella Slovak ihm hilft. Er wird wiederkommen. Sicherlich früher, als die Sozialarbeiterin eine Antwort auf seine Fragen gefunden hat.

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