Aus 17 Aktenordnern besteht das Gedenkbuch, das die Namen von mehr als 7100 jüdischen NS-Opfern in Dresden erfasst. Lea Siegert, geborene Rosenberg, ist eine von jenen, die als verschollen galten – bis sich kürzlich eine ältere Dame in der Jüdischen Gemeinde meldete und Briefe der Familie Siegert mitbrachte. Sie hatte den Schriftwechsel im Nachlass ihrer Cousine entdeckt. Daraus geht hervor, dass die Eheleute Siegert 1946 nach New York gezogen waren. Lea und Friedrich Siegert starben Ende der 60er-Jahre in den Vereinigten Staaten.
Sofort nimmt Archivarin Gabriele Atanassow eine Korrektur auf Seite 341 des Gedenkbuchs vor. »Das ist das Schönste an meiner Arbeit: Wenn ich vermerken kann, dass jemand, der als tot oder verschollen galt, trotz aller Widrigkeiten überlebt hat. Leider kommt das selten vor.«
anfragen Hinter jedem Namen in ihrer Kartei steht ein persönliches Schicksal – das ist es, was Gabriele Atanassow berührt und sie zu ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit im Archiv antreibt. Die 56-Jährige ist gelernte Technische Zeichnerin, arbeitet aber seit vielen Jahren in der Altenpflege. Mittwochs hat sie ihren freien Tag. Dann ist sie im Jüdischen Gemeindehaus am Hasenberg zu finden, wo sie Anfragen nach ehemaligen Dresdner Juden beantwortet. Und solche Bitten um Auskunft erreichen die Gemeinde auch 74 Jahre nach Kriegsende noch oft.
Rudolf Apt und Henry Meyer
erinnerten sich,
wer Mitglied der Gemeinde war.
Meist sind es Angehörige, die im Nachlass ihrer Großeltern oder Eltern einen Hinweis auf einen Teil ihrer Familiengeschichte finden, von dem sie nichts wissen. Dass Gabriele Atanassow häufig etwas Licht ins Dunkel bringen kann, ist auf die teils mühevolle Arbeit des »Arbeitskreises Gedenkbuch« zurückzuführen, der 1995 in Dresden bei der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit entstand. Die inzwischen verstorbene Projektleiterin Lilli Ulbrich und ihr Team aus zeitweise bis zu 15 Ehrenamtlichen trugen nach der Wende Tausende Namen verfolgter Juden aus Dresden zusammen.
Eine Puzzlearbeit, denn durch die großflächige Zerstörung der Elbestadt im Februar 1945 wurden Papiere in der jüdischen Gemeinde vernichtet. Zerstört wurde auch die Gestapo-Leitzentrale mitsamt ihren Akten. Überliefert wurden jedoch die Aufzeichnungen der beiden Dresdner Rudolf Apt und Henry Meyer. Die beiden hatten unter anderem im »Judenlager Hellerberg« aus dem Gedächtnis aufgezeichnet, wer Mitglied der jüdischen Gemeinde war, wer wo lebte und welches Schicksal ihm oder ihr widerfahren war.
Arbeitskreis Auf dieser Basis begann der »Arbeitskreis Gedenkbuch« zu forschen: Er wertete Archive von Konzentrationslagern und Deportationslisten aus und suchte im In- und Ausland nach Menschen, die Auskunft zu jüdischen Freunden und Nachbarn geben konnten. Ohne diese Arbeit wären die Namen vieler Dresdner Juden aus der Zeit vor 1945 wohl für immer vergessen worden. »Der Stadt die Namen zurückgeben – das war das Ziel. Wiedergutmachung gibt es nicht, aber man kann zeigen, was verloren gegangen ist«, beschreibt Gabriele Atanassow die Motivation des Arbeitskreises.
2001 wurde das Gedenkbuch anlässlich der Eröffnung der neuen Synagoge an die Dresdner Gemeinde übergeben. Das Archiv war nach Hause zurückgekehrt. Fünf Jahre später gab der Arbeitskreis zusätzlich das 400 Seiten starke Buch der Erinnerung. Juden in Dresden: Deportiert, ermordet, verschollen heraus. Im Vorwort betonte Lilli Ulbrich: »Es gibt kein Menschenrecht auf Unwissenheit.« Unter dieses Motto stellt auch Gabriele Atanassow die Arbeit an ihren »Schätzen«: den Dokumenten, Briefen, Fotos und Geschichten. Manche dieser Geschichten lassen sich weitererzählen. Zum Beispiel dann, wenn Angehörige ehemaliger jüdischer Bürger nach Dresden kommen – sei es auf Einladung der Stadt, anlässlich einer Stolpersteinverlegung oder aus eigener Neugier.
flucht So besuchte im Januar dieses Jahres Ben Tisser aus Chicago die Heimat seiner Vorfahren. Sein Großvater Leon Tisser wurde 1922 in Dresden geboren. Leon konnte mit einem seiner Brüder nach Palästina fliehen. Enkel Ben Tisser kam aber nicht nur als Gast, sondern der Nachfahre Dresdner Juden gestaltete als Kantor auch zwei Gottesdienste in der Dresdner Synagoge. »Das war sehr bewegend!«, erinnert sich Gabriele Atanassow.
Schüler und Studenten
fragen wegen
Projektarbeiten nach.
Zwischen der Archivarin, die selbst aus einem streng katholischen Elternhaus stammt, und Nachfahren einstiger jüdischer Bürger sind enge Freundschaften entstanden. Zum Beispiel mit der Künstlerin Mónica Weiss, der Tochter einer Dresdner Familie, die bereits 1933 flüchtete und nach einer halben Weltreise Buenos-Aires zu ihrer neuen Heimat machte. Was Gabriele Atanassow besonders bewegt: Ihre argentinische Freundin bezeichnet Deutsch immer noch als Muttersprache.
Auch für Klaudia Krenn, seit mehr als 20 Jahren Archivarin in der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig, zählen die persönlichen Begegnungen zu den Höhepunkten ihrer Tätigkeit. Durch Kontakte zu Nachfahren ehemaliger Leipziger Juden hat die gebürtige Berlinerin sogar schon Berührungspunkte zu ihrer eigenen Familie gefunden. »Man kann sich in die Menschen hineinversetzen, weil die eigene Familiengeschichte so ähnlich ist. Alle diese Geschichten sind tragisch«, sagt Klaudia Krenn: »Ab 1933, spätestens ab 1938, gehen die Menschen verloren.«
nachkriegsgeneration Klaudia Krenn stellt fest, dass vor allem die erste Nachkriegsgeneration, der sie selbst angehört, sich für die Vergangenheit interessiert, aber sie konnte häufig Eltern, Onkel, Tanten oder Großeltern nicht nach den Jahren 1933 bis 1945 befragen. Die wenigen Überlebenden breiteten häufig den Mantel des Schweigens über die Schrecken dieser Jahre.
Aber nicht nur Verwandte klopfen beim Leipziger Gemeindearchiv an, sondern – genau wie in Dresden – auch Schüler und Studenten wollen für Projektarbeiten in die Archive schauen, ebenso wie der Verein Stolpersteine.
Bis vor einigen Jahren wandten sich auch Rechtsanwälte an die jüdische Gemeinde, um Entschädigungsansprüche zu klären. Mitunter bitten andere Gemeinden Leipzig um Hilfe, wenn sie ihre eigene jüdische Geschichte aufarbeiten wollen. Denn die mitgliederstärkste sächsische Gemeinde ist in der glücklichen Lage, dass sie ihren Standort in der Löhrstraße immer behalten hat und dass ihr Archiv im Krieg nicht zerstört wurde. Es reicht – mit einigen Lücken – bis ins 19. Jahrhundert zurück.
handarbeit »Die Nachfahren sind erstaunt, wie viel wir wissen. Und uns macht es glücklich und zufrieden, ihnen helfen zu können«, sagt die Leipziger Archivarin. Allerdings: Alle Informationen müssen mühsam von Hand zusammengetragen werden, denn die Daten stehen auf Karteikarten. »Die Mitgliederdatei aus dem Jahr 1935 ist in einem Kassettenschrank untergebracht – der steht noch so da, wie er damals angelegt wurde«, sagt Klaudia Krenn. In den mehr als zwei Jahrzehnten ihrer Tätigkeit hat die 70-Jährige zwar viel Routine entwickelt, aber trotzdem ist die Recherche mühsam, insbesondere, wenn es sich um weit verzweigte Familien handelt. Vor allem aber wird das alte und häufig berührte Papier langsam mürbe. »Die Gefahr ist groß, dass das irgendwann alles zerfällt«, sagt Krenn.
Manchmal ist die Recherche mühsam.
Die Archivarin hofft, dass die Informationen früher oder später digitalisiert werden, damit sie für die Nachwelt erhalten bleiben und damit weiter daran geforscht werden kann. Denn abgeschlossen ist das Archiv niemals. »Das ist eine unendliche Geschichte«, sagt Klaudia Krenn.
Immer wieder erreichen die Archivarinnen neue Informationen, oder sie suchen aktiv danach, im Archiv des International Tracing Service in Bad Arolsen zum Beispiel oder auch bei den jüdischen Nachbargemeinden. So fand Klaudia Krenn einen Hinweis auf Verwandtschaft mütterlicherseits im Archiv Gedenkbuch in Dresden. Auch mit dem Chemnitzer Historiker Jürgen Nitsche arbeitet sie zusammen. Die dortige jüdische Gemeinde hat zwar kein Archiv, aber 2002 brachten Jürgen Nitsche und Ruth Röcher, die Vorsitzende der Chemnitzer Gemeinde, das Buch Juden in Chemnitz heraus. Es umfasst die Geschichten von 300 Familien.
Sütterlin Sowohl in Dresden als auch in Leipzig sorgen sich die Archivarinnen darum, wer die Geschichte einmal weiterschreibt. Nachfolger für ihre Arbeit sind nicht leicht zu finden, denn neben detektivischem Gespür und Sensibilität braucht man gute Deutsch- und Englischkenntnisse – und es ist von Vorteil, wenn man Sütterlinschrift lesen kann.
Viele Daten finden
sich auf einzelnen Karteikarten.
Hier ist noch nichts digitalisiert.
Gabriele Atanassow findet es auch aus gesellschaftspolitischer Sicht wichtig, das Gedenken zu pflegen: »Dieses furchtbare Kapitel deutscher Geschichte wiegt schwer – und sollte uns eine Mahnung sein.« Glücklicherweise gebe es viele Menschen, die sich für die Vergangenheit interessieren und dafür sorgen, dass die Erinnerung an die Verfolgten lebendig bleibt: »Das macht Mut.«