Projekt

»Umfassende neue Einblicke«

Jüdische Gemeinden gab es vor 200 Jahren im Norden Bayerns fast in jedem Dorf. Foto: Daten: geodaten.bayern.de, Bayerische Vermessungsverwaltung, EuroGeographics

Mit dem Titel »Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe« hat der frühere bayerische Kultusminister und Landtagsabgeordnete Ludwig Spaenle eine viel umfassendere Aufgabe übernommen als die Bekämpfung von Judenfeindlichkeit in allen Bereichen des öffentlichen Lebens.

Noch als Minister hatte Spaenle darauf hingearbeitet, dass der Anteil der Juden – die immer wieder als fünfter Stamm tituliert werden – an der Entwicklung Bayerns durch die Jahrhunderte deutlich wird. Dazu gehörte auf der einen Seite die Kontaktaufnahme zur Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayern in München und auf der anderen Seite die Beziehungen zu »The Central Archives for the History of the Jewish People« in Jerusalem, die Spaenle zuletzt im März 2018 besucht hat.

pressegespräch »Wir wissen viel zu wenig über die rund 300 ehemaligen jüdischen Gemeinden, ihre Mitglieder und das jüdische Gemeindeleben«, resümierte der Politiker bei einem Pressegespräch zur Vorstellung des Kooperationsprojektes mit dem Jüdischen Museum München zur Digitalisierung jüdischer Archive aus Bayern, an dem die israelische Generalkonsulin Sandra Simovich und der Museumsdirektor Bernhard Purin teilnahmen.

Den promovierten Historiker Spaenle faszinieren Landkarten, auf denen jüdische Gemeinden in Schwaben, Franken und der Oberpfalz Mitte des 19. Jahrhunderts in großer Dichte erscheinen, weil es kaum ein Dorf ohne jüdische Landbevölkerung gab.

Ende des 19. Jahrhunderts, ergänzt Purin, sähe das mit etwa 100 Gemeinden schon anders aus, weil jüdische Familien in größere Städte abwanderten. Heute gibt es nur noch 13 Gemeinden in Bayern. Dies bekräftigt Spaenles Aussage, wonach der Nationalsozialismus versucht habe, das Gesicht Bayerns nachhaltig zu verändern und Erinnerung auszulöschen.

kooperation In einer Kooperation zwischen dem Freistaat Bayern und Israel, speziell in der Digitalisierung von Archivmaterial der ehemaligen jüdischen Gemeinden Bayerns, sieht Spaenle »den Schlüssel zur Erschließung eines Wissensschatzes«.

Sandra Simovich betonte in diesem Zusammenhang, dass diese Digitalisierung gerade in Zeiten von anwachsendem Antisemitismus bedeutsam sei. Juden hatten ihren Platz in der deutschen Gesellschaft inne, seien ein Teil von ihr gewesen: »Keine Gäste, keine Fremden, sie lebten hier und wollten dies auch weiterhin, wenn man sie nur gelassen hätte.«

Der Umfang an Unterlagen, die über die jüdischen Gemeinden Bayerns existieren, ist sehr unterschiedlich, die Geschichte ihres Überdauerns oder Verlustes meist abenteuerlich. Die meisten Archivbestände – dazu zählen beispielsweise Gemeindeabrechnungen, Mitgliederlisten, Personalakten, Protokolle und Synagogen-Baupläne – wurden auf Befehl des Reichssicherheitshauptamtes durch lokale Verfolgungsbehörden wie die Gestapo, Kommunalbehörden oder die Polizei konfisziert.

beschlagnahmung Die Übernahme hing auch davon ab, so erläuterte Purin, ob und wo der Mob in der Nacht vom 9. auf den 10. November bereits gewütet hatte beziehungsweise wie gründlich die Polizei danach Beschlagnahmungen durchführte. Speziell Geburts-, Heirats- und Sterberegister aus dem 19. Jahrhundert wurden zur Ermittlung und damit der Verfolgung »nichtarischer« Menschen an das Reichssippenamt übergeben.

Die von der US-Militärregierung nach Kriegsende beschlagnahmten und Anfang der 50er-Jahre an Israel übergebenen Unterlagen variieren sehr. Da gibt es größere Bestände, etwa zu Würzburg mit 70, zu Fürth mit 140 Kartons, und ganz kleine mit drei oder vier Blättern.

Eine besonders tragische Episode, die den Fürther Bestand betrifft, hängt mit dem Brandanschlag auf das Gemeindehaus in München am 13. Februar 1970 zusammen. Der Remigrant Siegfried Offenbacher hatte sich Akten aus seiner Geburtsstadt Fürth ausgeliehen – was damals noch möglich war; diese tauchten, teilweise angesengt, im Handel auf, wurden also ganz offensichtlich gestohlen.

karteikarten Die Digitalisierung ist auch für die Provenienzforschung von großem Interesse und Nutzen. Dank der handschriftlichen Notizen des 1933 nach Palästina emigrierten Theodor Harburger konnten sieben Objekte der einstigen jüdischen Gemeinde in Arnstein zugeordnet werden. Harburger war nämlich in den 20er-Jahren beauftragt worden, Synagogen samt ihrer Kultgegenstände sowie jüdische Friedhöfe zu dokumentieren. Seine Karteikarten sind zum Großteil die einzigen Belege dafür, was gestohlen oder zerstört wurde. Die Grabsteine, die er noch entziffern konnte, sind, so erläutert Museumsdirektor Purin, längst nicht mehr lesbar.

Für Ludwig Spaenle ist die Dimension dessen, was zerstört wurde und an Wissen über bayerisches Landjudentum verschüttet wurde, Grund genug, dem Wissenschaftsministerium das Digitalisierungsprojekt ans Herz zu legen. Er geht davon aus, dass die Erschließung der Archivalien, für die geschultes Fachpersonal erforderlich ist, eine Million Euro kosten dürfte. Die Arbeit werde mindestens eineinhalb Jahre in Anspruch nehmen.

»Dass zumindest ein Teil der Dokumente jüdischen Lebens in Bayern gerettet werden konnte und dank der Digitalisierung seinen Weg zurück nach Bayern findet, erfüllt mich mit Zuversicht«, bekräftigte Sandra Simovich. Für die Forschung, so Purin, ermögliche die Digitalisierung künftig »umfassende neue Einblicke in das Innenleben jüdischer Gemeinden im heutigen Bayern«.

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