Darmstadt

Trauer um einen Freund

Moritz Neumann sel. A. vor dem Bild seines Vaters Foto: Gregor Zielke

Moritz Neumann sel. A. war lange Zeit das Gesicht und die Seele der jüdischen Gemeinschaft Hessens.» Der Tod des Journalisten, Gemeindevorsitzenden von Darmstadt, Vorsitzenden des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen und Direktoriumsmitglieds im Zentralrat der Juden sei ein herber Verlust, würdigte der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, Neumann.

Mit Leidenschaft habe er sich für die Belange der jüdischen Gemeinschaft und gegen Antisemitismus eingesetzt. «Der begnadete Erzähler und Journalist war mit seinem Wissen und seinem Esprit stets eine Bereicherung. Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren. Unser tiefes Mitgefühl gilt seiner Familie.»

Darmstadts Oberbürgermeister Jochen Partsch sagte: «Mit Moritz Neumann verlieren wir einen Freund, besonnenen Ratgeber und Fürsprecher für Versöhnung, Toleranz und das kulturell-politische Gemeinwohl in unserer Stadt.» Partsch bezeichnete Neumann als Kopf, Herz und Seele der Jüdischen Gemeinde Darmstadts, «die wiederum ein wichtiger Bestandteil unserer Stadtgesellschaft ist. Als Journalist und Kommunalpolitiker hat er zu den wichtigen Fragen unserer Zeit stets klare Standpunkte bezogen und diese auch von anderen eingefordert.» Er habe in der Jüdischen Gemeinde Darmstadts, in seiner Stadt und in der jüdischen Gemeinde Hessens und Deutschlands nachdenklich und engagiert für Dialog und Versöhnung gewirkt und sei dem neuen und alten Antisemitismus unerschrocken entgegengetreten, sagte Partsch.

Martin Frenzel, Vorsitzender des «Fördervereins Liberale Synagoge Darmstadt», schlug vor, Neumann wegen seines politischen Engagements gegen Antisemitismus und für «eine weltoffen-liberale, Minderheiten schützende Stadtgesellschaft» postum zum Ehrenbürger Darmstadts zu ernennen. Neumann habe maßgeblich an der Konzeption der Gedenkstätte Liberale Synagoge mitgewirkt und sie mit Rundgang, Multimedia-Installation und dem Garten der Erinnerung mitgeplant.

Journalist Neumann war das, was man einen Vollblutjournalisten nennt, und arbeitete bei mehreren Tageszeitungen, unter anderem der Frankfurter Rundschau und dem Darmstädter Echo. Neumann schrieb auch für die Jüdische Allgemeine und veröffentlichte zwei Bücher. Einmal im Monat sprach er für die Sendung «Aus der jüdischen Welt» Beiträge für den Hessischen Rundfunk. Ebenso vertonte er Filme. Er war als Musiker und Akkordeonspieler erfolgreich. Seine Band «Dif-Simches» spielte Folklore und tingelte in den 80er-Jahren als damals einzige jüdische Combo durch ganz Deutschland. Mit seinem Sinn für sarkastischen Humor stand Neumann auch als Moderator auf der Bühne.

Um Worte war Moritz Neumann nie verlegen. Er konnte unterhaltsamer Charmeur sein – und beißend scharfzüngiger Kritiker. Er war jedoch kein Mann, der seine Worte der Diplomatie unterordnete oder sich verbiegen ließ, anderen nach dem Mund redete oder Auseinandersetzungen scheute.

Für die SPD saß er viele Jahre im Darmstädter Stadtrat. Er trat zur Zeit Willy Brandts in die Partei ein, betonte aber, dass er sich nie politisch vereinnahmen oder disziplinieren ließ. 1985 folgte er dem Ruf seines Mentors Max Willner und kam als Geschäftsführer zum Jüdischen Landesverband Hessen, seit 1994 war er dessen Vorsitzender. Seit 1991 war er auch Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Darmstadt.

Rundfunkrat Neumann war Mitglied des Rundfunkrats des Hessischen Rundfunks und viele Jahre des deutsch-französischen Kulturkanals Arte. «Was meiner französischen Nebenader entgegenkam», erzählte Neumann der Jüdischen Allgemeinen anlässlich seines 65. Geburtstags 2013. Die Familie machte gern Urlaub in ihrem Ferienhäuschen in Frankreich. Für sein ehrenamtliches Engagement wurde ihm durch das Land Hessen 2007 das Bundesverdienstkreuz verliehen. Recht war ihm das nicht: «Das haben Alt-Nazis schließlich auch bekommen», sagte er. Aber eben auch Personen wie Steven Spielberg und Loriot. Das versöhnte ihn. 2015 wurde er für sein Engagement mit der Wilhelm-Leuschner-Medaille des Landes Hessen geehrt, im selben Jahr mit der Verdienstplakette der Stadt Darmstadt.

Neumann ist das Kind von Schoa-Überlebenden. Seine Mutter Frania war in Auschwitz, sein Vater Hans, ein in Breslau geborener jüdischer Sozialdemokrat, floh vor den Nazis durch halb Europa bis in die französische Fremdenlegion. Mit General Charles de Gaulle zog er 1945 in Paris ein. Dem Schicksal des Vaters spürte Neumann akribisch nach und schrieb darüber den biografischen Roman Im Zweifel nach Deutschland.

Seine Eltern kehrten nach dem Krieg ins «Land der Täter» zurück, obwohl sie eigentlich nach Australien oder in die USA auswandern wollten. Doch wegen der Herzerkrankung des Vaters blieb ihnen die Einreise verwehrt. Hier gründeten Neumanns Eltern eine der ersten jüdischen Gemeinden in Deutschland. Moritz Neumann wurde in Fulda geboren. Von seinen Eltern habe er das Kämpferische gelernt. «Trau dich, deine Meinung zu sagen», war ihre Maxime. «Ich wurde zum Widerspruch erzogen und dass wir uns nicht dafür verstecken, Juden zu sein», sagte er zu seinem 65. Geburtstag.

Überleben Den Widerspruch, zu dem er erzogen wurde, hat Moritz Neumann bei seinen Eltern nie ausgelebt. «Ich habe nicht gegen meine Eltern revoltiert. Ich hatte keinen Grund dazu, und ich wollte auch die Menschen nicht verletzen, die so viel schon gelitten hatten.» Er erinnerte sich an ein sehr enges Familienleben. «Es gab nur uns.»

Das war auch der Grund, dass er einen seiner Träume nicht verwirklichte: die Ausreise nach Israel. Mit 14 Jahren fuhr er mit einer Jugendgruppe in einen Kibbuz. «Ich kam heim in der festen Überzeugung, da gehe ich jetzt hin.» Seine Familie war dem zionistischen Gedanken verbunden. Frania Neumann war vor dem Krieg Mitglied in einer zionistischen Organisation. Nach dem frühen Tod des Vaters wollte Moritz Neumann seine Mutter nicht allein in Deutschland zurücklassen. «Es gab ja außer mir niemanden.»

Seinen Traum vom Kibbuz kompensierte er mit Reisen ins Land. In Darmstadt schlug er jedoch Wurzeln und gründete eine Familie mit drei Kindern und sechs Enkeln. «Ich habe mir immer eine große Familie gewünscht», sagte er. Moritz Neumann starb in den frühen Morgenstunden des 23. Juni im Alter von 68 Jahren.

Frankfurt

30 Jahre Egalitärer Minjan: Das Modell hat sich bewährt

Die liberale Synagogengemeinschaft lud zu einem Festakt ins Gemeindezentrum

von Eugen El  09.12.2024

Frankfurt/Main

»Mein Herz blutet«

In Israel herrsche »Balagan«, Chaos, sagt Chaim Sharvit. Er steht hier denen zur Seite, die zum ersten Jahrestag des 7. Oktober dunkle Gedanken haben. Ein Besuch in Deutschlands größtem jüdischen Altenheim in Frankfurt

von Leticia Witte  14.10.2024

Gedenkveranstaltung

Steinmeier: Wer überlebt hat, trägt schwer an der Last

Fünf Jahre nach dem rechtsextremen Anschlag besucht Bundespräsident Steinmeier die Tatorte.

 09.10.2024

Frankfurt

Graumann und Grünbaum zur Doppelspitze in der Frankfurter Gemeinde gewählt

Den Vorstand vervollständigen Rachel Heuberger, Daniel Korn und Boris Milgram

von Christine Schmitt  09.10.2024

Berlin

»Ein bewegender Moment«

Am Donnerstag fand in Berlin die feierliche Ordination von zwei Rabbinerinnen sowie sechs Kantorinnen und Kantoren statt. Doch auch der monatelange Streit um die liberale Rabbinatsausbildung in Deutschland lag in der Luft

von Ralf Balke  09.09.2024 Aktualisiert

Neue Potsdamer Synagoge

Am Freitag wird der erste Gottesdienst gefeiert

Nach der feierlichen Eröffnung im Juli soll nun das religiöse Leben in der Synagoge in Potsdam langsam in Gang kommen. Am Wochenende sind erste Gottesdienste geplant

 06.09.2024

IKG

»Ein großer Zusammenhalt«

Yeshaya Brysgal zieht nach einem Jahr als Jugendleiter eine positive Bilanz und plant für die Zukunft

von Leo Grudenberg  04.09.2024

Keren Hayesod

»Das wärmt mir das Herz«

Der Gesandte Rafi Heumann über seinen Abschied von Berlin, deutsche Spielplätze und treue Spender

von Christine Schmitt  04.09.2024

Porträt der Woche

Sinn ernten

Caro Laila Nissen half nach dem 7. Oktober Bauern in Kibbuzim nahe Gaza

von Lorenz Hartwig  01.09.2024