Kaum ist die Tinte des letzten der insgesamt 304.804 Buchstaben trocken, setzt ein großer Freudenjubel ein. Rabbiner Zsolt Balla ergreift die Hand von Küf Kaufmann, des Vorsitzenden der Israelitischen Religionsgemeinde (IRG) zu Leipzig, und die Hände weiterer Gemeindemitglieder.
Laut singend tanzen sie nun um den Tisch, auf dem die soeben fertiggestellte Torarolle liegt. Immer wieder rufen sie »Siman tov umazal tov, Umazal tov vesiman tov, Yehe lanu« (Ein gutes Omen und viel Glück kommen auf uns zu). Immer mehr der Anwesenden reihen sich in dem viel zu engen Gemeindesaal in der Keilstraße ein – trotz tropischer Temperaturen um die 36 Grad an diesem Sonntagnachmittag.
Gemeinschaftswerk Schließlich ist die neue Torarolle, deren letzte 100 Buchstaben soeben vom Sofer Shaul Nekrich mit dem traditionellen Gänsefederkiel kunstvoll auf das Pergament gesetzt worden waren, ein Zeichen für eine neue Qualität der wiedererstarkten Leipziger Gemeinde: Das erste Mal nach der Schoa war sie finanziell in der Lage, sich eine Torarolle anzuschaffen. Alle hatten gemäß ihrer Möglichkeiten etwas dazugegeben. Und so durften auch alle Familien einen Vertreter nach vorn schicken, damit er im Namen seiner Angehörigen einen weiteren Buchstaben hinzusetzt, um somit eben auch das große Gemeinschaftswerk zu symbolisieren.
Zu den Ersten, denen diese Ehre zuteil wurde, gehörten neben Küf Kaufmann auch Lev Abram, David Symanovskyy, Abram Kreis, Semen Nektalov, der erst 31-jährige David Mosche ben Yosef sowie der 90-jährige Jakov Rikler, der älteste der etwa 1300 Leipziger Gemeindemitglieder. Mit Schimon Kapitonov, Andrej Rosdowujev und Ron Kapitonov standen einmal sogar gleich drei Generationen derselben Familie am Tisch. Und wie alle anderen auch sprachen sie, bevor Shaul Nekrich tätig werden konnte, den wichtigen Lobspruch: »Leschem Keduschat Sefer Tora« (Ich trage den Buchstaben für die Heiligung der Tora ein).
Neben vielen Leipziger Gemeindemitgliedern, die ihre Wurzeln in der früheren Sowjetunion haben, berührten auch mehrere deutschstämmige Juden die rechte Hand des Sofer, um diesen quasi beim Setzen »ihres« Buchstabens zu führen. Zu ihnen gehörten auch zwei Professoren: der Rechtsanwalt Martin Maslaton und der Kunsthistoriker Alexander Rauch, der seinen 17-jährigen Sohn Ephraim mitgebracht hatte. Doch um Hierarchien und akademische Titel gehe es an diesem Sonntagnachmittag nicht, betonte Rabbiner Balla bereits zu Beginn. Und so glichen auch die Urkunden, die seine Frau Marina Charnis jedem »Buchstabenpaten« ausfertigte, einander wie ein Ei dem anderen. Stolz ließen sich viele damit gleich noch von ihren Familienmitgliedern fotografieren.
Auch Christen vom Stadtökumenekreis des Kirchenbezirks Leipzig hatten sich an der Sammlung für die Anfertigung der Torarolle beteiligt. An ihrer Stelle war die stellvertretende evangelisch-lutherische Superintendentin Dorothea Arndt zum feierlichen Akt gekommen und erhielt ebenfalls eine Gedenkurkunde.
Die vielleicht weiteste Anreise an diesem Tag hatte Elia bat Ascher. Er lebt in Köln, wo er der Synagogen-Gemeinde angehört. Vor zweieinhalb Jahren hatte er sich, wie er nun erzählte, überlegt, was er »Bleibendes für Gott und das Judentum tun kann«. Denn Kinder habe er nicht, also wollte er sein Geld für einen anderen guten Zweck einsetzen.
Damit wurde der gebürtige Russe zum wichtigsten auswärtigen Unterstützer für die Anfertigung der neuen Torarolle. Gemeinsam mit seiner Schwester hatte er Hunderte Briefe an Juden in der ganzen Welt – von Australien bis Amerika – verschickt, um sie zur finanziellen Unterstützung des Leipziger Vorhabens zu ermuntern.
Einbringung Wichtig sei ihm gewesen, so berichtete der Kölner, dass die Einbringung der neuen Torarolle noch vor dem 13. September stattfand. Denn damit erfolge dies gerade noch im jüdischen Jahr 5775. Und nunmehr hofft er, dass sie wenigstens 110 Jahre, also bis 5885, von der sächsischen Gemeinde genutzt werden kann. Rabbiner Zsolt Balla dankte Elia bat Ascher ausdrücklich für seine große Leidenschaft. »Was die Freunde in Köln für uns gemacht haben, ist einmalig«, lobte er und widmete ihm in der Synagoge auch ein Gebet.
Die Hauptarbeit für die neue Torarolle sei allerdings nicht durch ihn erfolgt, sondern durch professionelle Sofrim in Israel, verriet Shaul Nekrich. Insgesamt habe die Arbeit daran rund eineinhalb Jahre gedauert. Der 35-jährige Informatiker und Dozent, der einige Jahre Landesrabbiner in Brandenburg war und nun als Rabbiner zur Jüdischen Gemeinde in Kassel wechselte, ist selbst ein ausgebildeter Schreiber. So hatte er die feierliche Fertigstellung in Leipzig übernommen.
starke Hand Bevor schließlich der allerletzte Buchstabe auf das Pergament gesetzt wurde, bat Rabbiner Balla alle anwesenden Frauen, nach vorn an den Tisch zu kommen. Genau 24 folgten der Bitte und assistierten nun dem Sofer, als er ganz speziell für sie noch zwei bedeutungsvolle Worte einsetzte: Jad Hachasaka (die strenge beziehungsweise starke Hand).
Schließlich zogen die Gemeindemitglieder mit der neuen Torarolle, die mit einem roten Toramantel aus Samt mit der stolzen Aufschrift »IRG Leipzig« umhüllt wurde, fröhlich singend eine Treppe hinunter in die Synagoge. Hier warteten Küf Kaufmann, Gemeindegeschäftsführer Josif Beznosov und Jakov Kerzhner – ein Leipziger Maler und Grafiker – mit den drei anderen Torarollen, die die Leipziger Gemeinde bereits besitzt.
Der Rabbiner stellte die neue Torarolle symbolisch in den Toraschrein, um sie sofort wieder zu entnehmen und mit ihr durch die voll besetzte Synagoge zu tanzen. Alle wollten sie berühren, mancher küsste auch ihren Mantel. Da in der Leipziger Gemeinde täglich Gottesdienst abgehalten werde, komme sie nun auch häufig zum Einsatz, versprach er.