Es dauert nicht lange, bis man in der Wohnung von Pjotr Meshvinski und seiner Familie in der Hamburger Altstadt auf musikalische Spuren stößt. Neben dem Wohnzimmer eröffnet der Durchgang den Blick auf das Musikzimmer. In der Mitte stehen drei Notenständer, am Klavier lehnt das Cello: Meshvinskis Handwerkszeug. Auf dem Sofa liegen drei aufgeklappte Geigenkästen.
Hier musizieren er, seine Frau Natalia Alenitsyna und der 15-jährige Sohn Emanuel. »Zum Glück haben wir sehr geduldige Nachbarn«, scherzt Meshvinski. Das musikalische Trio bildet den Kern der »St. Petersburg Virtuosen« – da gehören mehrere Stunden Üben zum Tagesprogramm. Doch momentan basteln sie gemeinsam an einem ehrgeizigen Projekt: der Gründung eines jüdischen Kammerorchesters.
reichsmusikkammer Schon vor vielen Jahren stieß Meshvinski eher zufällig auf den Komponisten Edvard Moritz. Der Hamburger leitete das im Jahr 1934 gegründete Jüdische Kammerorchester, in dem bekannte jüdische Musiker spielten. Es sollte nur zu vier Auftritten kommen, bevor die Reichsmusikkammer im Sommer des folgenden Jahres ein Berufsverbot gegen Moritz aussprach.
Dem Musiker gelang die Emigration nach New York gerade noch rechtzeitig. Dort lebte er bis zu seinem Tod 1974 im Alter von 83 Jahren. An die Tradition des Jüdischen Kammerorchesters wurde in Hamburg nie wieder angeknüpft.
Dies wollen nun Meshvinski und seine Frau ändern und bemühen sich nach Kräften um den Aufbau ihres »Jewish Chamber Orchestra«. Die Hauptvoraussetzung wird die Gründung eines Vereins gemeinsam mit Rabbiner Shlomo Bistritzky und anderen Gemeindemitgliedern in den kommenden Wochen sein. Wenn es nach den beiden Berufsmusikern geht, soll noch in diesem Herbst das erste Konzert veranstaltet werden. Ein vorläufiges Programm steht schon fest. Kompositionen von jüdischen Musikern, die im Holocaust umkamen, will das Kammerorchester vor dem Vergessen bewahren: Gideon Klein etwa oder Hans Krása und Viktor Ullmann.
Musikausbildung Meshvinski und seine Frau besuchten dieselbe Elitemusikschule in St. Petersburg, von wo aus beide am renommierten Tschaikowski-Konservatorium in Moskau landeten. Der Talentförderung im russischen System sind die beiden bis heute sehr dankbar, auch weil klar war, dass es ihnen als Sprungbrett dienen könnte. »Wir wussten, unsere beste Überlebenschance wäre, so gute Musiker zu werden, dass wir das Land verlassen können«, erzählt Meshvinski.
1991 kamen die beiden als Kontingentflüchtlinge aus dem zerbrechenden Ostblock nach Hamburg, wo sie an der Musikhochschule studierten. Alenitsyna konnte sich danach noch zu einem Aufbaustudium in Köln einschreiben, wo sie von dem hoch geachteten russischen Geiger Wiktor Tretjakow unterrichtet wurde. »In Russland wäre es ein absoluter Traum gewesen, von ihm lernen zu können«, erinnert sich Alenitsyna.
Sie und ihr Mann stammen aus russischen Musikerfamilien, ihr Weg war von frühester Kindheit an vorgezeichnet, und sie geben ihn auch an den eigenen Nachwuchs weiter. »Wenn ein Kind erst mit zwölf oder 13 Jahren entdeckt, dass es gerne ein Instrument spielen will, ist es für den Weg zum Profimusiker eigentlich schon zu spät«, sind sich beide Eltern einig. Deshalb gibt Alenitsyna ihrem Sohn Geigenunterricht, seit er drei ist. Bisher zahlt es sich aus. Der inzwischen 15-Jährige ist fester Bestandteil des kleinen Kammerorchesters und lernt bereits als Jungstudent in Köln. »Wir wollten ihm unbedingt diese Berufsausbildung mitgeben, wenn er dann doch etwas anderes machen will, kann er das später immer noch«, sagt der Vater.
hip-hop Emanuel hört wie die meisten 15-Jährigen gerne Hip-Hop. Manchmal produziert er auch Musik mit Schulfreunden, doch mehrere Stunden am Tag widmet er seiner Geige. Seinen Eltern liegt viel daran, dass er bei der klassischen Musik bleibt, und sie wollen auch andere Kinder dafür begeistern. »Wir haben ja zu Hause mit Emmanuel das beste Beispiel, dass es funktionieren kann, wenn man Kinder früh intensiv fördert«, sagt sein Vater.
Ein wenig im Scherz, aber durchaus nicht ohne ernsthaften Hintergrund fügt er hinzu: »Bei uns herrschen noch ein wenig russische Verhältnisse.« Denn diese professionelle Förderung von Talent, besonders im jungen Alter, fehlt Meshvinski hier in Deutschland. »Das ist eine richtige Lücke, der Musikunterricht an den Schulen ist ja kaum ernst zu nehmen.«
Dies ist folgerichtig auch der zweite Teil ihres Projektes. Es geht ihnen nicht nur darum, jüdische Komponisten vor dem Vergessen zu bewahren und sie aufzuführen, sie wollen das mit einer gezielten Talentförderung an Schulen koppeln. Dazu stehen sie bereits in enger Verbindung mit der Joseph-Carlebach-Schule und hoffen, dort schon in den ersten Klassen auf talentierten Nachwuchs zu stoßen, den sie selbst unterrichten können.
förderung »Hier ist es oft eine Frage des Geldes. Viele meinen, nur reiche Eltern könnten sich guten Unterricht leisten, und die haben oft kein Interesse«, sagt Meshvinski. Ihr Förderprojekt würden sie mit Unterstützung des Geigenbauers Winterling beginnen, der Kinderinstrumente zur Verfügung stellen kann.
Mit der musikalischen Seite des Projektes kennen sich die beiden Streicher aus, aber in Sachen PR und Förderung können sie noch Unterstützung gebrauchen. »Wir sind bereit, sehr viel Energie und Enthusiasmus dahinein zu stecken«, sagt Meshvinski, »aber irgendwann muss es sich auch auszahlen, wenn wir so viel Zeit und Herz investieren.«
Der Traum sei es, das neue Kammerorchester als feste Institution zu etablieren und Konzerte in ganz Deutschland zu geben. Viele Menschen scheuten vor dem Besuch eines Klassikkonzertes zurück, bedauert der Cellist. »Manche denken, sie würden dabei nichts verstehen. Aber wenn ich mir die Musik von Gideon Klein anhöre, die er im Alter von 26 Jahren wenige Wochen vor seinem Tod im KZ komponiert hat, dann gibt es da nichts zu verstehen. Das kann man fühlen.« Auch deshalb wollen Meshvinski und Alenitsyna mit ihrem neuen Kammerorchester diese Musik wieder zugänglich machen.