Gedenken

Tausend Lichter im Grindelviertel

Kinder erinnern an Kinder, die hier lebten und ermordet wurden. Foto: Gesche M. Cordes

»Hier wohnte Heinz Adolf Hirsch, Jahrgang 1935, deportiert 1941 nach Minsk, ermordet«, steht auf einem der Stolpersteine vor dem Haus Rutschbahn 12. Heinz Hirsch wurde nur sechs Jahre alt. Ein Kind. Von Nazi-Deutschland ermordet. Die elfjährige Maria wohnt heute in dem Haus. Am Abend des 9. November zündet sie an seinem Stolperstein eine Kerze an.

»Wir wollen an die Bewohner erinnern, die in unserem Haus lebten und ermordet wurden, nur weil sie Juden waren«, sagt Maria. Mit dem kleinen Heinz Adolf, dem seine Mutter Ruth auch noch den Namen des »Führers« gegeben hatte, wurden am 18. November 1941 auch Bernhard, Martha und Ruth Hirsch nach Minsk deportiert und ermordet.

mahnwache Maria ist eine von vielen, die an der Aktion »Grindel leuchtet« zur Pogromnacht im Hamburger Grindelviertel Kerzen an den Stolpersteinen entzünden und der Ermordeten mit dem Licht gedenken. Die Aktion verwandelt das Viertel in eine aktive Gedenkstätte, ausgehend von einer Mahnwache auf dem Joseph-Carlebach-Platz, dem Platz der großen Hamburger Synagoge, die in der Nacht vom 9. zum 10. November geschändet und in Brand gesteckt worden war.

Heute ist der Platz nach dem letzten Rabbiner vor der Schoa, Oberrabbiner Joseph Carlebach, benannt. An der Mahnwache nimmt auch Hamburgs Landesrabbiner Shlomo Bistritzky teil. Shmuel Havlin, Kantor der Gemeinde, spricht das El male rachamim.

Die Mahnwache organisierten die Jüdische Gemeinde Hamburg, die Hamburger Universität und die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten. Die aber machen die Mahnwache für die ermordeten Hamburger Juden teilweise zu einer agitativen Kundgebung, was zu Unmut unter den 300 Teilnehmern führt. Gleichwohl sagt Organisatorin Frauke Springer-Yahar: »Der Jahrestag der Pogrome mahnt uns, weiter unbeirrt für die historische Losung ›Nie wieder!‹ einzutreten.«

nachbarschaft Dann erobert »Grindel leuchtet« den Platz, und Hunderte von Kerzen zeichnen den Grundriss der ehemaligen Bornplatz-Synagoge nach. Ein ergreifendes Bild, das sich weiter durch das Grindelviertel zieht, das Viertel, in dem bis in die 40er-Jahre blühendes jüdisches Leben herrschte mit der großen Synagoge, der Talmud-Tora- und der Höheren-Töchter-Schule, koscheren Lebensmittelläden und Restaurants, mit jüdischen Geschäften in einer guten Nachbarschaft mit Nichtjuden. Bis zum 9. November 1938.

Schräg gegenüber dem Joseph-Carlebach-Platz zündet Joelle Pruss-Romagossa eine Kerze vor einem Stolperstein an. »›Grindel leuchtet‹ ist eine gute Aktion, sie müsste nur noch offizieller sein und durch alle Stadtteile gehen«, sagt ihre Mutter Eva Pruss-Romagossa und erzählt, dass sie die Pogromnacht als Lehrerin auch mit ihren Schülern thematisiert hat. »Das ist wichtig, der Holocaust darf nicht vergessen werden, damit er nicht wiederkehrt«, sagte sie.

Während das Leuchten für die Opfer durch den Grindel geht, diskutiert eine Expertenrunde im Hamburger Warburg-Haus vor mehr als 50 Zuhörern über das Schicksalsjahr 1938, über die Frage, ob die sogenannte Reichskristallnacht ein Test des NS-Regimes für den Holocaust war oder ein spontan organisiertes Pogrom nach dem Attentat Herschel Grynszpans auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath in Paris.

Täter »Es war kein Testfall für den Holocaust, aber die Erkenntnisse aus der Nacht hat die NS-Führung für die Deportationen der Juden angewendet«, sagt Beate Meyer, stellvertretende Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden. »Die Frage ist, wer ist der Täter? Nur die SA- und SS-Leute und die Hitlerjugend? Oder auch die plündernden und applaudierenden Leute auf der Straße?«, fragt Alan E. Steinweis, Direktor des Center for Holocaust Studies an der University of Vermont.

»Die Ausweisung von polnischen Juden nach Hitlers Überfall auf Polen war noch kein Teil der Judenvernichtung, sondern eine brutale Ausweisung von unerwünschten Personen«, meint Beate Kosmala von der Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand Stille Helden. Sie vertritt auch die These, dass die Pogromnacht ein Testfall war: »Von da an steigerten SS und SA die Brutalität.« »Ich bin mir beim Begriff Testfall nicht so sicher, ob ich ihn verwenden würde, zumindest war es aus damaliger Sicht kein Test, sondern das Pogrom war eine riesige Erpressung des Regimes, um die Juden zu vertreiben«, antwortet Steinweis. Die Deutschen hätten zwar die Gewalt abgelehnt, die Judengesetze aber nicht.

Am späten Abend lädt schließlich die Jüdische Gemeinde zur Langen Nacht des Lernens in die Synagoge Hohe Weide ein. Wir haben uns entschieden, dass wir keine Gedenkveranstaltung mehr machen, denn das bringt uns nicht weiter, wir haben eine Nacht des Lernens für Juden und Nichtjuden initiiert mit der Bedeutung der Torarolle als Mittelpunkt«, erklärt Landesrabbiner Shlomo Bistritzky. Auch die Torarollen, die Seelen der Synagogen, hätten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 gebrannt.

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