Porträt der Woche

Tasten und Töne

Evgenija Simkina spielt Klavier in einem Kölner Zuwanderer-Klub

von Matilda Jordanova-Duda  11.02.2013 21:20 Uhr

Im Begegnungszentrum Köln-Porz: Evgenija Simkina (78) am Klavier Foto: Alexander Stein

Evgenija Simkina spielt Klavier in einem Kölner Zuwanderer-Klub

von Matilda Jordanova-Duda  11.02.2013 21:20 Uhr

Die Musik zieht sich wie ein roter Faden durch unser Leben, das hat schon in der Schulzeit angefangen. Mein Mann Mark ist Ingenieur und hat 39 Jahre in einem Bergwerk nahe Dnepropetrowsk geschuftet. Aber er hat lange Zeit auch in einem Freizeitorchester gespielt. So intensiv, dass ich manchmal eifersüchtig wurde, weil er sich zu Hause wenig blicken ließ.

Mein Mann spielt Klavier und Akkordeon – so wie ich, aber für mich war es der Beruf. Ich habe in einem Kindergarten als Musiklehrerin gearbeitet, später habe ich auch Erzieherinnen unterrichtet. Das war reichlich viel, sodass ich keine Lust verspürte, auch nach Feierabend noch Musik zu machen. Hier in Köln habe ich übrigens nach gut 20 Jahren eine ehemalige Schülerin wiedergetroffen. Sie arbeitet im Integrationszentrum »Phönix«, auch mit Kindern. Ab und zu besuche ich ihre Gruppen und schaue mir ihre Arbeit an.

idee Wir leben inzwischen seit mehr als 16 Jahren in Köln. Und da wir viele Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion sowie ihre Interessen und Vorlieben kannten, haben wir das Begegnungszentrum der Synagogengemeinde in unserem Stadtteil Porz mitgegründet. Wir hatten genug davon, zu Hause herumzusitzen, und so sagte ich zu meinem Mann: »Hör mal, Mark, vielleicht können wir auch etwas organisieren.« Und so kam es zu unserem literarisch-musikalischen Klub »Shalom chaverim«. Wer will, kann bei uns singen. Und wer das nicht möchte, kann kommen und zuhören – das ist die Idee.

Anfangs waren wir zu dritt. Aber bald meldeten sich acht Leute, die mitmachen wollten. Sie sind in unserem Alter, haben früher als Bauingenieure, Laborantinnen oder Drucker gearbeitet, und Musik war ihr Hobby.

Wir machen Remakes auf bekannte sowjetische und klassische Melodien. Damit die Gäste mitsingen können, kopieren wir die Blätter und legen sie aus. Jede Einladung zu unseren Veranstaltungen schließt mit der Bitte ab, die Brille ja nicht zu vergessen. Im Repertoire haben wir deutsche, jüdische, russische, weißrussische und ukrainische Lieder. Hebräisch muss ich leider vom Blatt ablesen – und auch das kann ich nur, wenn es mit kyrillischen Buchstaben geschrieben ist. Aber es wäre schön, wenn unsere Leute hier auch wüssten, welche Gebete zu den jüdischen Festen gehören. Deshalb singen wir die passenden Lieder zu Chanukka, Purim oder Rosch Haschana und verteilen die hebräischen Texte in kyrillischer Schrift.

Alle zwei Monate geben wir ein Konzert. Jetzt haben wir ein Winterfest unter dem Motto »Auf den Wellen der Erinnerung« vorbereitet: Wir wollen den Zuhörern die Lieder aus den letzten vier Jahren ins Gedächtnis rufen. Jeden Mittwoch kommen wir zusammen und proben. Und wenn es auf das Konzert zugeht, nehmen wir auch die Freitage mit. Früher haben alle Proben bei uns zu Hause stattgefunden: Damals reichte der Platz im Begegnungszentrum vorne und hinten nicht. Jetzt haben wir – Gott sei Dank! – mehr Raum, und es steht auch ein Klavier zur Verfügung.

e-piano Zu Hause haben wir nur ein E-Piano. Leider weiß ich nicht, wie man damit umgeht. Ich muss immer meinen Mann rufen: »Mark, bitte schalt mir das Klavier ein!« Wir bereuen, dass wir kein echtes gekauft haben. Jetzt können wir es uns nicht mehr leisten.

Leider habe ich seit einiger Zeit gesundheitliche Probleme. Die Finger der linken Hand gehorchen mir nicht mehr richtig: Wenn ich den Akkord spiele, wird das kraftlos. Ich drücke auf die Tasten, aber es kommt kein Ton heraus. Der Daumen und der Zeigefinger sind dank des Akkordeons wieder ein bisschen beweglicher geworden, aber der Rest macht es nicht mehr mit. Zum Glück konnten wir einen sehr guten Ziehharmonika-Spieler als Ersatz finden.

Die Klubleitung kann ich auch nicht mehr stemmen. Ich habe unsere Bibliothekarin, eine ehemalige Pädagogin, gebeten, diese Aufgabe zu übernehmen. Sie hat uns früher schon geholfen, Szenarien für die Veranstaltungen zu schreiben und hat im Theater mitgespielt. Ich bin froh, dass sie bereit ist, denn ich könnte es nicht ertragen, wenn der Klub zerfallen würde. Mein Mann und ich, wir haben versichert, dass wir weiterhin aktiv mitarbeiten werden.

Natürlich gehen wir auch in die Synagoge, aber jeden Samstag hinzufahren, ist uns zu beschwerlich. Man hat uns gefragt, ob wir nicht im Synagogenchor singen wollen. Aber ehrlich gesagt, ich kann nicht überall sein. Wir wohnen hier in Porz und verbringen die meiste Zeit im Begegnungszentrum. Hier gibt es jede Menge Interessantes. Mein Mann kommt zum Minjan und zum Torastudium mit dem neuen Rabbiner. Ich habe meinen Strickklub, und einmal die Woche gehen wir zum Deutschunterricht.

Obwohl wir schon so lange in Deutschland leben, sind unsere Sprachkenntnisse dürftig. Damals im Übergangsheim in Unna-Massen sagte uns die Dame: »In Ihrem Alter lohnt es sich nicht mehr, Sie auf die Liste für den Deutschkurs zu setzen.« Ich fragte: »Wieso das?« »Nun, Sie sind ja schon 64 Jahre alt.« Das war’s. Man wollte uns nichts beibringen.

Wenn wir zum Arzt müssen, gehen wir zum russischsprachigen. Und wenn wir aufs Amt müssen, nehmen wir einen Dolmetscher mit. Aber wir wollen nicht zur Last fallen. Deshalb machen wir auch diese ganze Arbeit. Für uns ist es ein Vergnügen, aber wir wollen auch anderen Freude bereiten. Das Gefühl, noch gebraucht zu werden, jemandem etwas Gutes zu tun, ist wichtig.

seminare Die Synagogengemeinde hat uns schon dreimal zu Seminaren oder einfach so zur Erholung nach Bad Kissingen geschickt. Dabei hat man uns die Synagogen in der Umgebung gezeigt. Es gab da eine Kantorin mit einer wunderbaren Stimme. Als sie anfing, die Gebete zu singen, hat es mir den Atem verschlagen. Mir war zum Weinen zumute, so unglaublich schön war das!

Zum Abschied gibt es nach den zwei Wochen in Bad Kissingen immer eine Feier, und die haben wir immer mitorganisiert. Das letzte Mal waren rund 50 Leute dabei: die eine Hälfte aus Hannover, die andere aus Köln. Wir sangen und spielten Musik, und zur Erinnerung bekamen wir die Aufnahmen auf DVD.

Unsere Familie ist groß. Wir haben einen Sohn, eine Tochter, drei Enkel, alles Jungs, und schon zwei Urenkel und zwei Urenkelinnen. Das ist unser Reichtum, Gott sei Dank! Unser Sohn und die Enkel arbeiten alle, die Schwiegertochter beendet gerade ihr Studium. Natürlich müssen wir einspringen und unterstützen sie bei der Kinderbetreuung.

In der vierten Generation sind alle Kölner: Die Jüngste ist erst zwei Monate alt. Der Älteste ist neun und besucht die dritte Klasse. Unser größter Wunsch ist, dass sie die russische Sprache nicht vergessen. Mein Mann beschäftigt sich viel mit ihnen. Die Kinder haben ihre eigenen kleinen Keyboards, und er macht mit ihnen Musik. Unser Neunjähriger sagte kürzlich zu ihm: »Weißt du, Opa, ich höre gern zu, aber ich mag nicht besonders gern singen. Doch ich habe es gern, wenn du mir vorliest. Ich schmelze dann dahin!« Und er hat vorgeführt, wie er dahinschmilzt: Aaach!

Für die Zukunft wünschen wir uns vor allem, gesund zu bleiben und noch aktiv am Leben unseres Begegnungszentrums teilzunehmen. Nicht, dass wir zu Hause nichts zu tun hätten. Aber wir sind schon so daran gewöhnt, dass wir uns fragen: »Heute ist doch Mittwoch, wieso gehen wir nicht hin?« Und dann machen wir uns auf den Weg.

Aufgezeichnet von Matilda Jordanova-Duda

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