Interview

Synagogenbau ist »ein Zeichen, dass jüdisches Leben weitergeht«

Max Privorozki, Vorsitzender des Landesverbandes Jüdischer Gemeinden in Sachsen-Anhalt Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild

Herr Privorozki, wie gehen die Menschen in den Jüdischen Gemeinden derzeit mit der Situation in Israel um?
Ich habe gute Freunde in Israel in der Nähe des Gazastreifens, zum Beispiel in Aschdod, in Aschkelon oder in Be’er Scheva. Ich habe mit ihnen gesprochen, und die Situation ist dort dramatisch. Die Menschen sind nervös. Es ist ein Kriegszustand. Und ich nenne das auch nicht einen Terroranschlag, ich nenne das Pogrom. Das ist vergleichbar mit dem, was wir beispielsweise aus Russland vor 100 Jahren kennen oder aus der Nazi-Zeit. Das ist wie ein Déjà-vu.

Fühlen Sie sich gut durch die Polizei und die Sicherheitsbehörden geschützt?
In Magdeburg, Halle und Dessau haben wir sehr gute Kontakte zur Polizei. Sie entscheidet selber, wie und wo sie Schutzmaßnahmen erhöht. In Halle, wo ich Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde bin, haben die Polizisten aber auch nachgefragt, was wir meinen, wo sie den Schutz verstärken sollten. Das Wichtigste ist momentan, nicht die Synagoge noch besser zu schützen, sondern die Menschen. Darüber habe ich mit der Polizei gesprochen. Wir sind alle nervös, ich auch. Besonders wenn man in den Medien liest, was in den großen Städten in Deutschland passiert. In Berlin wurden in den vergangenen Tagen Häuser gekennzeichnet, in denen Juden leben. Auch gab es trotz Verboten antijüdische Demonstrationen. Das ist sehr unerfreulich und bedenklich. Die Situation ist angespannt, aber die Gottesdienste gehen weiter. Beim letzten Schabbat in Halle waren genauso viele Leute da wie immer.

Gerade haben im Land die Jüdischen Kulturtage begonnen. Welche Auswirkungen hat die derzeitige Sicherheitslage auf die Veranstaltungen?
Das Leben geht weiter, aber wir haben das Programm umgestellt. Zum Beispiel hatten wir viele Veranstaltungen zum Thema 75 Jahre Israel geplant. Einen Teil davon müssen wir verschieben, weil Gäste, die aus Israel kommen sollten, nicht anreisen können. Auf Konzerten, auf denen beispielsweise getanzt werden sollte, werden wir die Musik austauschen. Auf jeden Fall gibt es bei den Veranstaltungen größere Sicherheitsvorkehrungen. Wir haben mit der Polizei vorher gesprochen und uns auf bestimmte Maßnahmen verständigt, aber jetzt mussten wir alles wieder ändern. Bei der Eröffnungsveranstaltung in Magdeburg habe ich sehr viel Polizei gesehen.

Eigentlich wären diese Wochen ja ein doppelter Anlass zur Freude für die jüdische Gemeinschaft: Am Sonntag wird in Dessau eine neu gebaute Synagoge eröffnet, im Dezember dann in Magdeburg. Sind das trotz allem Zeichen der Hoffnung?
Sie sind auf jeden Fall ein Zeichen, dass jüdisches Leben weitergeht. Das Land Sachsen-Anhalt wird jetzt endlich nicht mehr das einzige östliche Bundesland sein, in dem nach der Wende keine einzige Synagoge neu gebaut wurde. In allen anderen neuen Bundesländern wurden neue gebaut oder wie in Brandenburg umgebaut. Und jetzt gleich zwei Neubauten: Das sind zwei wirklich große Ereignisse, die für uns wichtig sind. Und ich freue mich sehr für beide Gemeinden und für unsere jüdische Gemeinschaft. Das hat aber trotzdem einen Beigeschmack: Wir feiern etwas, und zugleich passieren in Israel so schreckliche Dinge.

Wie haben sich denn die Mitgliederzahlen in den Gemeinden entwickelt? Gibt es mehr Mitglieder - und wo kommen sie her?
Im vergangenen Jahr hat sich durch die Flüchtlinge aus der Ukraine die Mitgliederzahl erstmals seit Jahren wieder stabilisiert. Seit etwa 2005 waren die Zahlen in allen Gemeinden rückläufig. Das hat damit zu tun, dass sich damals die Regelungen für jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion geändert haben. Die Einreise ist seitdem nicht mehr so einfach wie früher, sodass weniger neue Migranten kamen. Die Gemeinden sind veraltet, das ist nicht nur in Sachsen-Anhalt so. Das betrifft aber auch viele andere Religionsgemeinschaften und die Gesellschaft allgemein. In Halle haben wir zehn bis 15 Sterbefälle im Jahr, gleichzeitig kommen nur ein, zwei Kinder zur Welt. Im vergangenen Jahr kamen auch einige Ukrainer jüdischen Glaubens zu uns. In Halle waren es knapp über zehn. Somit konnte der negative Trend gestoppt werden.

Gerade haben wir den vierten Jahrestag des Attentats auf die Synagoge in Halle begangen. Erleben Juden hierzulande auch im Alltag Anfeindungen oder Hass?
Was am 9. Oktober 2019 passiert ist, war in der Wirkung eine absolute Ausnahme. Man kann eine Beleidigung am Telefon, antisemitische Graffiti oder Friedhofsschändungen nicht mit einem Terroranschlag vergleichen. Ich hoffe, ich werde das im Leben nie wieder erleben. Aber Antisemitismus insgesamt existiert. Ich bin da vielleicht ein schlechter Ansprechpartner, denn wenn man einen Terroranschlag überlebt hat, dann registriert man alles, was in der Brutalität nicht vergleichbar ist, ganz anders. Aber es gibt immer wieder Hass und Beleidigungen, und das ist wirklich schlimm. Wir bekommen zum Beispiel immer wieder E-Mails mit Anfeindungen. So etwas schicke ich fleißig weiter, entweder an die Meldestelle für Antisemitismus oder die Polizei.

Mit Max Privorozki, Vorsitzender des Landesverbandes Jüdischer Gemeinden in Sachsen-Anhalt und der Jüdischen Gemeinde in Halle, sprach Oliver Gierens.

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