Eine Sukka können sie dieses Jahr noch nicht bauen. Die Wohnung ist frisch bezogen, daher steht der Balkon noch voller Umzugskisten. »Das macht aber nichts«, sagt Daniel Golikov, »im Grunde leben wir mit dem Moishe-Haus die Idee von Sukkot ja ganzjährig.«
Golikov ist einer der drei Bewohner des ersten Moishe-Hauses in Deutschland, mitten in den Mannheimer Quadraten. Seit zehn Jahren gibt es Moishe-Häuser, aber hierzulande sind sie kaum bekannt. »Moishe House« ist eine internationale Organisation, die junges jüdisches Leben fördert. Sie beteiligt sich an der Finanzierung von Wohnungen, die von drei bis sechs jungen Juden bewohnt werden und die auch Treffpunkt für jüdische Aktivitäten werden: Spieleabende, Diskussionsrunden, Schabbatabende und die Feiertage.
familiär Wie jüngst am Neujahrsfest: »A. hat eine wunderbare Deko gezaubert an Rosch Haschana«, berichtet Thomas Abramovich von seiner Mitbewohnerin, die demnächst als Dritte und Letzte in das Mannheimer Moishe-Haus einziehen wird. Die einzelnen Bewohner bleiben für mindestens ein bis maximal vier Jahre in den WGs wohnen, bis sie ihr Zimmer dann für einen anderen räumen. »Wir haben jetzt die Chance, etwas zu gestalten«, sagt Daniel Golikov.
Der 21-Jährige studiert Politikwissenschaft und Jüdische Studien in Heidelberg. »Ich habe zuvor in einem Studentenwohnheim gelebt, aber man hatte in dem kleinen Zimmer nie die Gelegenheit, viele Leute zu treffen.« Dabei will er Moishe House keinesfalls als Konkurrenz zu den jüdischen Gemeinden der Region sehen. »Eher im Gegenteil. Wir sind eine Ergänzung. Wir sind eben keine Institution mit einer bestimmten religiösen Ausrichtung, sondern einfach eine familiäre jüdische Community!«
Die Mieter verpflichten sich, ihr Haus zu öffnen und Aktivitäten zu veranstalten. »Wir haben einen breiten Pool an Menschen, die bisher zu unseren Veranstaltungen gekommen sind. Da waren Leute, die traditioneller sind, andere, die liberal sind, und wieder andere, die bisher noch nie in einer Synagoge waren«, erzählt Abramovich. »Sie kommen von weit her, nicht nur aus Heidelberg und Mannheim, sondern auch aus Köln, Dortmund und sogar aus Frankfurt!«
Auch A. schwärmt: »Ich fand Moishe House von Anfang an toll.« Sie kommt aus einer kleinen Gemeinde. Im Moishe-Haus genießt sie den Kontakt zu vielen gleichaltrigen Juden. »Wir können hier über Themen sprechen und diskutieren, die in einem anderen Rahmen womöglich nicht angesprochen werden können.«
Das erste Moishe-Haus stand in San Francisco, wo sich zunächst vier junge Juden zusammengefunden und aus ihrer WG einen Treffpunkt für jüdisches Leben gemacht haben. Mittlerweile gibt es 93 Häuser in 21 Ländern. In Deutschland ist die WG in Mannheim die erste.
secondhand »Ich habe gesehen, wie vielfältig die Moishe-Häuser sind. Nicht nur, was ihre Innenausstattung betrifft, die ist in den meisten Fällen secondhand«, erzählt A. »Es war sehr interessant, zu verstehen, dass Moishe House kein vorgetretener Pfad ist, sondern die Chance, seinen eigenen Weg einzuschlagen und zu kräftigen.«. Sie hat das Prager Moishe-Haus bereits besucht, und auf einer Konferenz der Moishe-House-Bewegung tauschte sie sich mit Bewohnern anderer Häuser aus.
»Am schwierigsten war es, eine passende Wohnung zu finden«, erinnern sich die Studenten. Als sie sich im Frühjahr 2016 bei Moishe House beworben haben, gingen sie ein Risiko ein. In der Region sind Wohnungen für Studenten rar. Dennoch kündigten sie ihre jeweilige Bleibe und machten sich gemeinsam auf Wohnungssuche.
Nach einigen Wochen frustrierender Absagen fanden sie schließlich in den Mannheimer Quadraten eine Vier-Zimmer-Wohnung mit Balkon, die perfekt war. Im Juli unterschrieben sie den Vertrag. »Im Mietvertrag stand, die Wohnung sei renoviert«, erzählen sie; es gab aber noch viel zu tun. Schon zwei Wochen nach Einzug fand die erste Veranstaltung statt. »Der Zuspruch war enorm«, freut sich Golikov, auch wenn die Besucher noch auf Decken und Kissen sitzen mussten.
Am meisten hat ihn beeindruckt, wie sich völlig fremde Menschen so schnell kennenlernten. Das einzig Verbindende sei der Bezug zum Jüdischen gewesen, der Rest war Neugierde. »Besonders hier in Deutschland, wo es mit der Willkommenskultur ja ohnehin etwas kontrovers werden kann, können wir mit Moishe House etwas Gutes bewirken«, meint Golikov. Seine Familie stammt aus der Ukraine, er selbst wurde in Tel Aviv geboren und kam mit sechs Jahren nach Deutschland. Auch Thomas Abramovich nickt. Der Biochemie-Student stammt aus São Paulo und ist erst seit 2002 in Deutschland.
studium Vor Herausforderungen scheuen sich die beiden Bewohner nicht. Sie brauchen viel Zeit, um ihr Moishe-Haus richtig bewohnbar zu machen. Da steht das Studium schon mal hinten an. Die Wohnung herrichten, Möbel finden und parallel noch die Veranstaltungen vorzubereiten – das alles kostet Kraft und Zeit. »Morgen wird die Küche geliefert«, freut sich Abramovich. »Sie wird koscher sein«, ergänzt Golikov. »Nicht weil das eine verbindliche Vorgabe von Moishe House wäre – das ist es nämlich nicht –, sondern weil wir das so wollen«, betont Golikov.
So ist das auch gedacht. Moishe House legt großen Wert darauf, dass sich religiöse Juden in den Häusern genauso wohl fühlen wie etwa nichtjüdische Besucher. Das Programm richtet sich an alle jungen Juden, die sich als solche verstehen. Finanziert wird das Programm durch Spenden vornehmlich jüdischer Organisationen und Privatpersonen. Das Mannheimer Moishe-Haus wird überdies von der Jüdischen Gemeinde Mannheim sowie dem Zentralrat der Juden unterstützt.
Gute Bedingungen also. Entsprechend können die Bewohner bislang kaum von Problemen berichten, wie man sie aus anderen Studenten-WGs kennt. »Problematisch war bisher lediglich das Geschirrspülmittel anstelle des Shampoos im Bad«, erzählt Abramovich. »Wer das da hingestellt hat, weiß keiner.«