Frankfurt

Streiten wie die alten Rabbinen

Streitlust ist in Frankfurt beste Tradition.» Mit diesen Worten begrüßte Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) am vergangenen Mittwochabend die Zuhörer zur Auftaktveranstaltung des neu gegründeten «Jüdisch-Politischen Lehrhauses», für das er die Schirmherrschaft übernommen hat.

Unter diesem programmatischen Titel soll es in Zukunft regelmäßig Veranstaltungen mit Vorträgen und Diskussionen geben, die sich mit der Bedeutung religiöser und politischer Diskurse im Judentum und ihrer Ausstrahlung auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen befassen. «Mein Wunsch ist es, mit dieser Reihe den Anteil der jüdisch-politischen Tradition an der europäischen Geschichte sichtbar zu machen», betonte Rabbinerin Elisa Klapheck aus Frankfurt, die Initiatorin und Mitgründerin des Lehrhauses. Viele Zuhörer waren zur Eröffnungsveranstaltung gekommen.

Natürlich denkt man bei diesem Titel sofort an das berühmte, von Franz Rosenzweig im frühen 20. Jahrhundert ebenfalls in Frankfurt ins Leben gerufene «Jüdische Lehrhaus», doch möchte Elisa Klapheck mit diesem Format vor allem auch an die vor mehr als 2000 Jahren entstandene rabbinische Kultur der Schriftauslegung und Debatte, wie sie der Talmud überliefert, anknüpfen.

Spannungsverhältnis Im Kern ging es an diesem ersten Abend um das Spannungsverhältnis zwischen religiösem und säkularem Recht. So wies Hauke Brunkhorst, Direktor des Instituts für Soziologie an der Uni Flensburg, auf die Doppelgesichtigkeit der Religion in Bezug auf Macht und Herrschaft hin.

Zum einen habe sie historisch häufig dazu gedient, den Anspruch auf Herrschaft und die daraus resultierende Unterdrückung und Ungleichheit der Bevölkerung zu legitimieren – man denke nur an das «Gottesgnadentum», das frühere Monarchen in Europa für sich reklamierten. Gleichzeitig wohne jeder Religion auch ein utopisches Moment inne, die Vision einer geheilten und befreiten Welt. «Um das Reich Gottes Wirklichkeit werden zu lassen, muss die Knechtschaft der Regierungen besiegt werden.»

Mit dem Bund, den das Volk Israel mit Gott am Sinai schloss, wurde die Gleichsetzung von Herrschaft und Heil aufgelöst. Denn fortan sahen sich die Juden einzig Gott und den von ihm erlassenen Geboten verpflichtet.

bundesschluss Damit war eine universalistische Gegenposition zum konventionellen Gehorsam gegenüber jedweder willkürlichen, weltlichen Macht bezogen. Dieses Konzept, wie es sich im Bundesschluss zwischen Israel und Gott abzeichnet, hat – wie Klapheck betonte – viele Verfassungstheoretiker und Rechtsphilosophen seit der Aufklärung inspiriert und war «bei allen demokratischen Schüben in der Geschichte Europas wirksam».

Auch sei das Verhältnis zwischen Gott und Mensch, wie es mit dem Bund begründet werde, nicht statisch, sondern spannungsreich: «Um die eigene Position immer wieder neu zu bestimmen, tritt der Mensch in eine Auseinandersetzung mit Gott», erklärte Klapheck. «Der Bund mit Gott besteht also in sich ständig wandelnder Form weiter, entwickelt und verändert sich.» Schon die Rabbinen hätten versucht, «in der Tora, je nach aktueller gesellschaftlicher Situation, neue Aspekte zu entdecken, die sie mit wachsendem Selbstbewusstsein mitunter sogar gegen Gott durchzusetzen versuchten.»

Ein Spannungsverhältnis besteht aber nicht nur zwischen Mensch und Gott, sondern auch zwischen göttlichem und säkularem Gesetz. So heißt es im Babylonischen Talmud: «Das Gesetz der Regierung ist das Gesetz» – ein Satz, über den Brunkhorst und Klapheck länger diskutierten. Brunkhorst versuchte es mit einem Vergleich: «Das göttliche Recht ist wie das Grundgesetz, das säkulare Recht wie die jeweiligen Gesetzgebungen der Bundesländer. Das Grundgesetz gibt den Rahmen vor, sein Boden darf nicht verlassen werden.»

Beziehung Micha Brumlik, emeritierter Pädagogikprofessor und seit 2013 Senior Advisor am Zentrum Jüdische Studien Berlin/Brandenburg, war der dritte Gelehrte des Lehrhauses an diesem Abend. Er hatte eine wunderbare Geschichte aus dem Talmud ausgewählt, um die Beziehung zwischen Mensch und Gott zu illustrieren. In einer rabbinischen Debatte um die richtige Auslegung der Halacha bittet Rabbi Elieser um Beistand aus dem Himmel, um beweisen zu können, dass er als Einziger im Recht ist. Und tatsächlich ertönt, nach einer ganzen Reihe von Wundern, eine Hallstimme aus dem Himmel, die seine Sichtweise bestätigt. Und was antworten seine rabbinischen Kontrahenten? «Die Tora ist nicht mehr im Himmel. Sie ist bereits vom Berge Sinai verliehen worden. Und es steht dort geschrieben, dass nach der Mehrheit entschieden werden soll.»

Nach diesem Satz, so Brumliks Deutung, «kann niemand mehr behaupten, alleiniges Sprachrohr Gottes zu sein. Denn alles, was als göttlicher Wille bezeichnet wird, muss mehrheitlich legitimiert sein.» Doch der Clou liegt noch anderswo. So wird am Ende dieser Geschichte erzählt, Gott habe die Renitenz seiner Rabbinen mit dem Satz «Meine Söhne haben mich besiegt!» kommentiert. «Das ist antifundamentalistisch», so Brumliks brisante aktuelle Interpretation dieses Ausspruchs. Vor allem aber bricht Gott nicht in Zorn über die Gelehrten aus. Im Gegenteil: «Gott lächelte», heißt es, und so «menschlich» hat man den Höchsten wohl selten gesehen.

Beim nächsten Treffen des Lehrhauses steht die Wirtschafts- und Sozialethik aus jüdischer Perspektive auf dem Programm.

Frankfurt/Main

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