Die gediegene Kaffeehausatmosphäre im »Einstein« am Charlottenburger Savignyplatz hat auf Kantor Isaac Sheffer eine anziehende Wirkung. Hier sitzt er oft bei einem Mokka, um Zeitung lesende oder ins Gespräch vertiefte Menschen zu beobachten. Manchmal trifft er sich auch mit der Organistin und Chorleiterin Regina Yantian, um liturgische Fragen oder den Spielplan vor Gastspielreisen des Synagogal Ensemble Berlin zu besprechen.
Im April wird er, der seit 19 Jahren neben Simon Zkorenblut als Kantor der Synagoge Pestalozzistraße amtiert, aus Altersgründen den Stab an Isidoro Abramowicz weiterreichen. In seinem Stammcafé zieht Isaac Sheffer Bilanz – und blickt im Gespräch auf ein wahrlich vielfältiges Leben zurück.
Musik gehörte in Sheffers Elternhaus zum Alltag. Noch heute muss er lachen, wenn er von der todkranken Mimi erzählt, die den kleinen Isaac regelmäßig zu Tränen rührte – damals, als La Bohème die einzige Schallplatte war, die seine Eltern besaßen. Erst nach und nach wurden weitere Tonträger angeschafft.
Seine Mutter war eine talentierte Sopranistin. Ihrem kleinen Sohn sang sie Arien vor.
Seine Mutter, eine talentierte Sopranistin, wäre gern selbst als Mimi auf der Opernbühne gestorben. In jener Zeit aber, als sie und ihr Mann aus Rumänien nach Palästina kamen, waren dort andere Talente gefragt. Ihr blieb nichts anderes übrig, als die weltberühmten Arien dem kleinen Itzig, wie sie ihren Sohn liebevoll nannte, zu Hause vorzusingen. So wurde in dem Jungen früh die Leidenschaft für die Oper entfacht.
herzliya Als knapp Neunjähriger ließ er sich im Herbst 1960 in seiner Geburtsstadt Herzliya dazu überreden, das Geigenspiel zu erlernen. Sein Geigenlehrer an einem musischen Gymnasium im nahen Tel Aviv glaubte an sein Talent. Im Teenager-Alter aber wollte Itzig, wie ihn nun auch seine Freunde nannten, sich als Rockmusiker beweisen. Als singender Schlagzeuger spielte er mit der Band »Radical Change« von den Beatles bis Pink Floyd in Schulaulen und Jugendklubs alles, wozu man tanzen konnte.
Nach dem Abitur ging er mit seinen Kumpels zur Armee – da war erst einmal Schluss mit der Musik. Drei Jahre später, kaum wieder im Zivilleben angekommen, wurde Isaac Sheffer zum Jom-Kippur-Krieg 1973 aus der Reserve zurückgeholt und sah sich als Soldat auf dem Sinai der ägyptischen Armee gegenüber. Nach dem Krieg absolvierte er eine Banklehre, denn er hatte mittlerweile eine Familie zu ernähren. In dieser Zeit griff er gelegentlich wieder zur Geige und sah sich nach anderen Musikern um. Bald fand er in Harvey Bordowitz einen Dirigenten, der kurz zuvor mit talentierten Amateuren das »Herzliya Chamber Orchestra« gegründet hatte. Und Isaac Sheffer stieg ein – die Musik hatte ihn wieder.
Ein Kollege in der Bank machte ihn auf die Gründung eines Philharmonischen Chores aufmerksam, wofür noch talentierte Amateure gesucht würden. Tagsüber Anlageberater und abends Chorsänger – es folgte ein Leben zwischen Brotjob und Kunst. Sheffers Ehrgeiz aber war entfacht, und er machte sich auf die Suche nach einem Gesangslehrer. Er fand einen diplomierten Stimmbildner, der Schüler von Raffaele Arié war – einem der Großen der Opernwelt.
Vom Dirigenten des Philharmonischen Chores, Michael Shani, hatte Sheffer Mitte der 80er-Jahre gehört, dass eine »Neue Israelische Oper« gegründet und ein Ensemble zusammengestellt würde. Er meldete sich und fand sich nach dem Vorsingen im Ensemble der Neuen Israelischen Oper wieder – und bald darauf auf der Bühne in der Rolle des Yakusidé, dem weinseligen Onkel der Madame Butterfly.
USA Längst engagierte sich Israel für den künstlerischen Nachwuchs. Man holte in den Sommermonaten die Bühnenstars der New Yorker Metropolitan Opera für die Gesangsweiterbildung. Bei Isaac Sheffer fiel das auf fruchtbaren Boden. Seine Bühnenrollen wurden größer, und gleich zweimal in Folge erhielt er das begehrte Keren-Sharett-Stipendium der America-Israel Cultural Foundation. Auf jener Sommerakademie in Tel Aviv lernte Sheffer die Sopranistin Joan Caplan kennen, die sich in New York einen Namen als Stimmbildnerin gemacht hatte.
Gemeinsam mit seiner zweiten Frau Mimi, auch sie eine Sängerin, reiste er in die USA. Mit Joan Caplan wollte er sich auf eine Opernkarriere vorbereiten. Um Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen, hatte Mimi Sheffer die Stelle der Kantorin in der liberalen Westend Synagogue angenommen, während Isaac in der orthodoxen Park East Synagogue im Chor sang.
Ein Dirigent von der Yeshiva University bot ihm an, als Kantor am Hebrew Tabernacle zu amtieren. Doch Sheffer lehnte ab. Erst als ihm auch seine Frau zuredete, nahm er das Amt an. Gelegentlich amtierte er an den Hohen Feiertagen auch im Temple Beth Shalom.
Berlin Sein Ziel aber war die vielfältige Opernszene in Deutschland. Dafür hatte er auch schon einem Berliner Agenten vorgesungen. Kurz bevor die Sheffers in der deutschen Hauptstadt eintrafen, war jener Opernagent gestorben. Ein »Gefühl der Verlassenheit«, wie er sagt, führte Isaac Sheffer in die Räume der Jüdischen Gemeinde. Er übergab eine Kassette mit Gesangsproben. Es dauerte lange, ehe der Anruf kam, er solle sich in der Synagoge Pestalozzistraße vorstellen. Seit Jahrzehnten war hier der berühmte Estrongo Nachama tätig.
Kurz vor Rosch Haschana 1998 hielt er Noten von Lewandowski in der Hand – zum ersten Mal.
Zehn Tage vor Rosch Haschana 5758 (1998) hielt Isaac Sheffer zum ersten Mal Notenmaterial von Louis Lewandowski in der Hand. Zehn Tage später amtierte er an der Seite von Nachama und blieb dort der zweite Kantor bis zu dessen Tod im Januar 2000.
Der eigenwillige Ritus der Synagoge mit Orgel und Chor sowie die Musik Lewandowskis waren ihm mittlerweile so ans Herz gewachsen, dass es der Bitte der Gabbaim nicht bedurft hätte, er möge als Nachamas Nachfolger alles so beibehalten.
Noch immer ist Kantor Sheffer die Ergriffenheit anzumerken, wenn er erzählt, wie vor seinem ersten Gottesdienst die Witwe und der Sohn von Estrongo Na-chama ihm im Kantorenzimmer viel Glück für das neue Amt wünschten.
19 Jahre sind seither vergangen, in denen Isaac Sheffer, wie Jasmin Bruck-Andriani – ein »Kind der Pestalozzi« und mittlerweile Rabbinerstudentin – es ausdrückt, zur »Seele der Synagoge« geworden war. Viele kleine und große Geschichten kann Kantor Sheffer über diese Zeit erzählen; über persönliche Begegnungen oder seinem Auftritt im Deutschen Bundestag am Holocaust-Gedenktag.
fügung Ein Erlebnis aber empfand er als sehr existenziell. Nach einem Konzert in Weimar sang er an der Gedenktafel für die ermordeten Juden auf dem Marktplatz das »El Male Rachamim« und das Kaddisch. Da kam eine Frau, die das Geschehen als zufällige Passantin erlebt hatte, auf ihn zu, klammerte sich an ihn und begann bitterlich zu weinen.
In diesem Moment dachte Sheffer an seinen Großvater, von dem ihm als Kind erzählt worden war und den die Deutschen deportiert und ermordet hatten. »Nun wusste ich«, sagt Isaac Sheffer, »dass eine schicksalhafte Fügung mich zum Kantor am Ort der Schoa bestimmt hat.«
Auch nach dem Stabwechsel im Kantorenamt wird Sheffers noch immer beeindruckende Stimme sicherlich nicht verstummen. In der Berliner Gemeinde gibt es jedenfalls Pläne, den Kantor auch künftig flexibel in verschiedenen Synagogen einzusetzen.