Die Religiosität unserer Leute ist nicht so intensiv», sagt Alexander Zakharenko. Wie auch? Die meisten kommen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. «Das war ein antireligiöser Staat», weiß Zakharenko aus eigenem Erleben. Der Mann ist in Sibirien geboren, kam über Israel nach Deutschland und von Berlin nach Thüringen. Zunächst als eingeladener Sänger.
Eingeladen von Konstantin Pal. Dieser hatte das Zeug zum Rabbiner, eine besondere Stimme gehörte allerdings nicht dazu. Die hat Alexander Zakharenko. Pal musste ihn nicht lange bitten, in Erfurt zu singen. Drei Jahre war Pal Rabbiner in Thüringen, ehe er wieder zurück nach Berlin ging, um dort zu heiraten.
Berlin–Erfurt Und nun ist der 45-jährige Alexander Zakharenko seit zwei Wochen ganz offiziell Kantor, ins Amt eingeführt wurde er in Wroclaw in der Synagoge zum Weißen Storch. Und schon Jahre zuvor engagierte er sich in der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen. Derzeit bereitet er zwei Jugendliche auf ihre Barmizwa im kommenden Jahr vor, hält den Schabbat und ist einfach die meiste Zeit der Woche in Erfurt, obwohl er mit seiner Frau immer noch in Berlin lebt.
Erstmals hat Alexander Zakharenko in diesem Jahr die geistliche Leitung für die Feiertage. Und er möchte unbedingt, dass die Religiosität nicht zu kurz kommt. Auch, wenn er die Leute erst einmal dazu motivieren muss. «Tischri ist wirklich der heftigste Monat und verlangt viel Konzentration», erklärt der frisch eingeführte Kantor. Beispielsweise für Rosch Haschana. Das sei nicht einfach nur Neujahr. Hier werde entschieden, wie es im kommenden Jahr wohl weitergehen wird mit jedem Einzelnen.
«Den Abendgottesdienst bereite ich nun das vierte Mal mit vor». Der Kantor ist froh, dass er schon ein wenig Erfahrung hat. Liturgisch weiß er also Bescheid. Und doch: Erstmals trägt er allein die Verantwortung, wenn er auf der Bima steht. Und, so sagt er, spirituell und physisch werde ihm richtig viel abverlangt. Da will er gern alles geben, dafür ist er schließlich Kantor geworden. Er entscheidet über die Musik, will zum Teil andere Melodien verwenden. Für die Kantoren sind die kommenden drei Wochen ab dem 24. September die schwierigste oder zumindest sangesreichste Zeit des Jahres. Alles a cappella, versteht sich.
Verantwortung Für Rosch Haschana rechnet Zakharenko mit 100 bis 120 Menschen in der Synagoge. Damit werden es so viele sein wie sonst nie. Zakharenko will nicht nur für diese Menschen vorbereitet sein und sie zur Einkehr ermuntern, sondern auch selbst auf eine Weise auf der Bima stehen, dass er mit sich weitgehend im Reinen sein kann.
Ohne eine Art Meditation würde ihm das nicht gelingen. Das ist, natürlich, ein Spagat: für sich in Meditation gehen und für die Gemeinde da sein. «Aber das wird mir gelingen», ist der Kantor überzeugt. Schließlich hat er extra für das Studium am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam seine mögliche Karriere als Opernsänger in Israel aufgegeben. Und ist zuvor aus Sibirien aufgebrochen, um als religiöser Jude leben zu können. Die Eltern sind in der Heimat geblieben.
Auch an Jom Kippur haben sein Wort und sein Gesang mehr Gewicht als sonst. «Ich will meine Grenze für Gott und mein Verständnis finden und mich mit der Gemeinde verbinden», ist Zakharenkos Anspruch an das Versöhnungsfest. Und er will es bei seiner Premiere als Verantwortlicher richtig gut machen. Mit leisen Tönen. Laut kann er gar nicht.
Über die Juden und die Welt nachzudenken, ist in diesem Jahr vielleicht schmerzvoller als in den anderen Jahren. «Aber ich habe unsere Traditionen und unsere Geschichte. Und ich lebe mittendrin», macht er sich selbst Mut. Er wird auch darüber nachdenken, warum er sicherheitshalber eine Mütze über der Kippa trägt, wenn er auf die Straße geht. Vor zwei Monaten noch wäre er nicht auf die Idee gekommen. «Der Antisemitismus ist sichtbarer geworden», sagt er. Neu sei er nicht. Nein, Angst habe er auch nicht. Er sei nur wütend. «So viel Dummheit, so viel Ignoranz», habe er bei den Gaza-Demonstrationen auf der Straße bemerkt.
Auf das Laubhüttenfest Sukkot und Simchat Tora freuen sich alle in der Gemeinde. Auch jene, die mit Religion nicht allzu viel zu tun haben. Draußen, vor der Synagoge, steht eine Hütte – das ganze Jahr über. Sogar Strom haben sie inzwischen gelegt. Dort werden sie das Laubhüttenfest feiern.
«Vielleicht begehen wir Sukkot sogar in zwei Durchgängen», überlegt Reinhard Schramm, der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen. Alexander Zakharenko wird also zweimal die besondere Liturgie singen und den Kiddusch sprechen. Das anschließende Essen werden drei Frauen aus der Gemeinde in der Küche des Hauses am Juri-Gagarin-Ring zubereiten.
Orthodox Und schließlich Simchat Tora, das Torafreudenfest: Sie werden am 17. Oktober die Torarollen aus dem Aron Hakodesch nehmen und alle Jungen ab 13 und die Männer zur Toralesung rufen. Wirklich nur die Männer? «Ja, in Thüringen ist das noch nicht anders möglich. Aber in Weiden in Bayern und in Berlin kommen auch die Frauen», erklärt Zakharenko die Situation in der Mitte Deutschlands.
In Erfurt sind sie also noch nicht soweit. So, wie es wohl auch nicht möglich sein wird, dass im kommenden Jahr eine Rabbinerin als geistliches Oberhaupt nach Thüringen käme, sagt Reinhard Schramm. Obwohl er nichts dagegen hätte. Doch die Gemeinde ist alt, viele Menschen können und wollen sich einfach nicht mehr umstellen. Des hohen Durchschnittsalters der Mitglieder wegen wird derzeit auch der Jüdische Friedhof in Erfurt erweitert. Der Platz reicht nicht mehr aus.
Trotz der Hohen Feiertage muss Alexander Zakharenko sich also auch auf Trauerfeiern vorbereiten. Nahezu jede Woche stirbt ein Mitglied der Gemeinde. Derzeit sind sie in Thüringen gerade mal 800 Frauen, Männer und Kinder.