Wann beten wir? Warum beten wir zu bestimmten Zeiten gerade dieses oder jenes Gebet? Wann stehen die Menschen in der Synagoge, wann sitzen sie? Können wir überhaupt unbefangen über unsere individuellen Fragen und Antworten zu Gebet und Gottesdienst sprechen? Wir können. Zumindest gilt das für die Teilnehmer des vierwöchigen Sidur-Crash-Kurses, der in der vergangenen Woche in der Synagogen-Gemeinde Köln zum Abschluss gekommen ist.
Doch dieser kompakte Kurs über das Gebetbuch, den Siddur, ist für manche Teilnehmer alles andere als ein Zusammenprall oder Krach. Denn in ruhiger und sehr konzentrierter Atmosphäre erarbeiteten sich die etwa 20 Interessierten unter der behutsamen und einfühlsamen Leitung von Joel Mertens den Siddur.
Dem praktizierenden traditionellen Juden gelang es rasch, eine informelle Arbeitsatmosphäre zu schaffen, die nicht nur Raum für jede Frage zuließ, mehr noch: die geradezu ermutigte, die ganz individuellen, sehr persönlichen Fragen zu stellen.
Training »Das Gebet qualifiziert sich nicht durch Äußerlichkeiten«, leitet Mertens den Abschlussabend ein und betonte den eigentlichen Charakter: »Es geht vielmehr darum, sich selbst zu vervollkommnen, an sich zu arbeiten, sich selbst zu verbessern und so dazu beizutragen, die Welt besser zu machen.« Am Beispiel der Geschichte von Chana verdeutlicht er dies. Nicht allein die Technik des Betens sei es, worauf es ankomme. »Vielmehr sind es die Aufrichtigkeit und Tiefe des Gebets.«
Geduldig geht Mertens auf die Fragen aus der Gruppe ein. Es fällt auf, dass die Frauen und Männer ausschließlich jüngeren oder mittleren Alters sind und über teils völlig unterschiedliche religiöse Vorbildung und Herkunft verfügen.
Mitglieder aus den Synagogen-Gemeinden Köln und Düsseldorf, Juden aus Osteuropa oder einfach Interessierte und Neugierige sind gekommen. Ute beispielsweise wollte »einfach mein Interesse an Judentum, jüdischer Spiritualität und Religion vertiefen«.
Lernen Michael hingegen, der regelmäßig in die Synagoge geht, belegte den Kurs, »weil man einfach nie auslernt und viele Kenntnisse neu entdecken oder wiederentdecken kann«. Und Irina erhoffte sich durch den Kurs eine Bestärkung ihres eigenen Weges und: »Dass die Teilnehmer ihre Erfahrungen und Gefühle vor allem an jüngere Menschen weitergeben, die sich dann für einen Besuch der Synagoge begeistern können«, so die junge Frau.
In den vorangegangenen Sitzungen hatte die Gruppe die Strukturen des Gottesdienstes erarbeitet. Eine Pyramide an der Tafel zeigt die verschiedenen Ebenen: Segenssprüche am Morgen, Opfer, Verse des Gesangs, Schma und Amida, Bußgebet, Toralesung – nur montags und donnerstags – sowie die Psalmen als Schlussgebet (Aleinu). Im Mittelpunkt des letzten Abends in der Judaica der Synagoge steht das Kapitel »Die Regeln des Gebets« aus dem religionsgeschichtlichen Kompendium des Rambam.
Mizwa Ausgehend von der Mizwa des täglichen Gebets, erinnert dieser jüdische Gelehrte aus dem Mittelalter an die Zeilen aus dem 2. Buch Mose: »Und ihr sollt dem Ewigen, eurem Gott, dienen, mit ganzem Herzen, mit ganzer Kraft.« Dienen, das heißt Beten, führt Mertens aus und fragt in die Runde: »Was aber ist die Arbeit, die in deinem Herzen stattfindet? Das Gebet.«
In Kleingruppen erschließen sich die Teilnehmer den zeitlos gültigen Text und gehen ihn anschließend in großer Runde durch. Der Abend ist zu kurz, um alle Aspekte aufzuarbeiten. Joel Mertens beschließt den Kurs mit dem Wunsch: »Ich hoffe, dass viele Fragen offen geblieben sind.« Eine Einladung, wiederzukommen und sich vielleicht dem Beit-Midrasch-Lernprogramm des Rabbinats anzuschließen.
Gemeinderabbiner Jaron Engelmayer beschließt den Kurs mit einigen Bemerkungen und erinnert an die Beziehung zu Gott: »Wenn wir erfüllt sind von dem Gefühl, dass Gott nicht nur in wackligen Momenten da ist, hebt das unsere Existenz, unser Sein in andere Höhen, ins Gebet.«
Spiritualität Yonathan vergleicht die Kurswochen mit einem Telefongespräch – nur mit zwei kleinen Unterschieden: Beim Beten hat man immer eine Verbindung, und das auch noch kostenlos, ein Pauschaltarif rund um die Uhr. »Ich habe erfahren, dass sich ähnlich wie bei einem Telefonat das Gebet mit seinen verschiedenen spirituellen Ebenen aufbaut und entwickelt, wie sich Kommunikation auf- und abbaut.«
Ute hat viele kleine Geheimnisse entdeckt – etwa dass der erste und letzte Buchstabe des Schma Israel besonders hervorgehoben sind und zusammengenommen das Wort »Zeuge« ergeben. Zeugen sind aber nun wohl auch die Teilnehmer des Kurses, die jeder nach seinen Fähigkeiten die Gelegenheit haben, Teil der Gemeinde zu sein. »Sich gemeinsam über so persönliche Dinge wie Gebet und Beten auszutauschen, stärkt das eigene Beten und das Gefühl und die Freude, in einer Gemeinde zu sein«, hat Irina herausgefunden.
Eignung Es sind solche Erfahrungen, die Daniela Kalmar-Schönberger mit dem Sidur-Crash-Kurs hervorrufen möchte. »Das Gebet ist für jeden Menschen geeignet, egal, auf welcher religiösen Stufe er steht«, sagt die Organisatorin des Kurses, die seit einigen Jahren Eventmanagerin der Synagogen-Gemeinde ist.
Sie war überrascht, wie viel Zuspruch ihr Kursangebot findet. »Es mag auch eine angenehme Möglichkeit sein, sich des eigenen religiösen Weges oder auch der jüdischen Herkunft und Identität zu vergewissern. »Und natürlich hoffe ich, dass die Teilnehmer vom Kurs so inspiriert werden, dass sie öfter in die Synagoge kommen und sich dort heimisch fühlen.«