Will man Martin Meir Widerker in einem ruhigen Moment treffen, gehört eine große Portion Glück dazu. Zwar lernt der Mann mit dem jugendlichen Outfit und dem entwaffnenden Lachen sehr gern neue Menschen kennen. Doch selbstironisch meint er, der am 11. Dezember 80 wird: »Ich bin immer in Bewegung, fast rund um die Uhr, und muss ständig Prioritäten setzen.«
Am 30. November wird der Stuttgarter mit einem großen Konzert im Tel Aviver Kulturzentrum »Heichal Hatarbut«, gemeinsam mit renommierten Chören und Kantoren, auf den Geburtstag einstimmen. Das ist kein Zufall, denn hier in Tel Aviv wurde Martin Meir 1935 geboren. Seine Eltern waren galizische Zionisten, sie lebten den Traum von der Besiedlung Palästinas und dem Aufbau eines jüdischen Staates. Doch die Reise zu einem Onkel und Schoa-Überlebenden in Wroclaw wurde der Familie 1947 zum Verhängnis – die polnischen Behörden ließen sie nicht mehr ausreisen.
»Für meine Eltern muss das ein tiefer Schock gewesen sein«, sagt Widerker, »in einem Land festzustecken, in dem der Antisemitismus auch nach der Schoa ungehemmt fortwirkte.« Ende der 50er-Jahre gelingt den Widerkers die Ausreise nach Westdeutschland. Der 22-Jährige beginnt an der Technischen Hochschule Stuttgart zu studieren, doch kurz darauf stirbt sein Vater bei einem Autounfall. Martin tritt nun an seine Stelle, kümmert sich um die gesamte Familie und gibt das Studium auf.
Unternehmer »Damals blieb wenig Zeit zum Nachdenken, denn das Leben musste ja weitergehen«, erinnert sich Widerker. Noch als Student gründet er ein kleines Fensterputz-Unternehmen, rasch wird daraus eine Gebäudereinigungsfirma. Bald kommt die Verwaltung und Sanierung von Gewerbeimmobilien hinzu – ein Feld, das den nun schon routinierten Organisator in den 80er-Jahren auch in die USA und nach Kanada führt.
Heute ist der langjährige Gemeinderepräsentant, Komponist und Freizeitpilot Aufsichtsratsvorsitzender der deutschlandweit aktiven Unternehmensgruppe Widerker, eines Familienunternehmens mit Niederlassungen in Stuttgart und Berlin. Auch die beiden Söhne Dubi und Benny sind mit im Boot.
Widerker ist stolz auf den Firmenerfolg, aber der beherrscht nicht sein Leben. Ganz oben stehen für ihn die Familie und die Ehe mit seiner aus Israel stammenden Frau Karmela. Inzwischen gehören nicht nur zwei Söhne und zwei Töchter, sondern auch acht Enkel zur Familie. »Wir sind alle viel beisammen, machen gemeinsam Urlaub, und langweilig ist es da noch nie geworden«, erzählt Widerker und lacht. Stuttgart ist ihm ans Herz gewachsen, und hier vor allem die Israelitische Religionsgemeinschaft Württembergs. »Es ist doch ein Segen, wenn du eine lebendige Kehilla im eigenen Ort findest, und dafür sollte man auch etwas von sich geben«, meint er.
Makkabi Genau das hat er in den vergangenen Jahrzehnten getan. Hier gründete Widerker den Sportverein TSV Makkabi Stuttgart und kurz darauf den württembergischen Zweig von Keren Hayesod. Noch heute ist er Vorsitzender von beiden. Mehr als 40 Jahre arbeitete er in der Stuttgarter Gemeinderepräsentanz mit, fungierte als Gemeindevorstand und auch als Vorsitzender. Burnout ist für ihn kein Thema. »Wir durften erleben, wie die Gemeinde Schritt für Schritt wieder gewachsen ist, wie Religion, Tradition und Zedaka wieder eine ganz neue Bedeutung bekamen. Das war alle Mühen wert«, freut sich Widerker.
Er ist froh darüber, Wesentliches zur Eröffnung der jüdischen Grundschule, zum Neubau eines Betreuungsheimes für ältere Menschen, zur Etablierung des Karl-Adler-Musik-Wettbewerbs, aber auch zur Paraphierung eines soliden Staatsvertrages mit der baden-württembergischen Landesregierung beigetragen zu haben. Inzwischen hat sich Widerker etwas aus dem aktiven Gemeindeleben zurückgezogen, was ihm mehr Zeit für neue Kompositionen lässt.
Gern experimentiert er mit unterschiedlichsten Stilrichtungen sakraler Liturgie, angefangen von chassidischen Nigunim bis hin zu Melodien, die an Louis Lewandowski erinnern. Drei Alben mit hebräischen Schabbat-Songs und Bibel-Psalmen sind inzwischen entstanden, gesungen in deutschen und israelischen Synagogen, bisweilen auch in Konzerthallen. Einige der schönsten Lieder stehen als Videoclips online.
Religiösistät Musik und Religion gehören für ihn eng zusammen, aber die jüdische Religion bestimmt auch seinen Alltag. »Dass wir einen koscheren Haushalt führen, ist für Karmela und mich selbstverständlich. Ich lege jeden Tag Tefillin, auch meine Söhne tun das. So war das schon bei unseren Vorfahren, und ich sehe mit Freude, dass sich das bei meinen Kindern und Enkeln fortsetzt.« Und Israel? Zwar hat sich der in Tel Aviv Geborene nie zur Alija entschlossen, aber die Verbindungen sind bis heute sehr stark. »Unser Herz ist fast mehr dort als in Europa, und bei meinen Besuchen an den heiligen Orten hole ich mir viel Inspiration fürs Komponieren.«
Das Smartphone klingelt, der ruhige Moment ist vorbei, und in wenigen Minuten wird Martin Widerker wieder in Bewegung sein. Diesmal nimmt er den Wagen, aber manchmal setzt er sich auch noch ans Steuer seiner geliebten »High Performance Aircraft« – und fliegt gleich selbst zum nächsten Geschäftstermin. »Es ist ein wunderbares Gefühl da oben«, lächelt er, »und manchmal fallen mir dann gleich die nächsten Melodien ein.«