Es wird eng in der Ausstellung Topographie des Terrors. Obwohl es erst später Vormittag ist, drängen sich etliche Schüler und Erwachsene in dem Dokumentationszentrum und studieren die Schautafeln. »Ab und zu fixiere ich einzelne Besucher, um zu sehen, wo und wie lange sie stehen bleiben, um Fotos und Infotexte zu betrachten und zu lesen«, sagt Andreas Nachama, Direktor der Stiftung Topographie des Terrors.
Zu seiner Zufriedenheit habe er festgestellt, dass die meisten gegen Ende der Ausstellung nicht kürzer verweilen als am Anfang. Und das Interesse von mittlerweile 1,4 Millionen Besuchern im Jahr erfreue ihn natürlich, denn damit habe er Mitte der 80er-Jahre, als alles begann, nicht gerechnet.
büro An diesem Freitag sitzt der 68-jährige Rabbiner, Historiker und Autor in seinem Büro im Untergeschoss. Von seinem Schreibtisch aus blickt er auf das Fenster des Martin-Gropius-Baus, hinter dem die erste Ausstellung zu den Machenschaften der Gestapo gezeigt wurde.
Die Regale in Nachamas Büro sind voll mit Büchern, auf seinem Tisch steht ein Miniaturmodell des »House of One«. Mehrere Papierstapel liegen vor dem Computer ausgebreitet. Ende des Jahres werden etliche Bücher in die Synagoge Sukkat Schalom umziehen, wo er ehrenamtlich als Rabbiner wirkt. Denn nach mehr als 30 Jahren als Stiftungsdirektor der Topographie des Terrors geht Andreas Nachama Ende des Jahres in den Ruhestand.
Am Montag wurde der renommierte Historiker und Topographie-Direktor im Berliner Abgeordnetenhaus gewürdigt und feierlich verabschiedet. Aber das heißt für ihn natürlich nicht, dass er sich zur Ruhe setzt. Auf seiner Agenda stehen noch etliche Podiumsdiskussionen, zu denen er als Redner eingeladen ist, Eröffnungen der Ausstellungen im nächsten Jahr, die er noch geplant hat, und das Zusammenfassen seiner 13 Vorträge, in denen er einen persönlichen Blick auf die NS-Zeit wirft, zu einem Buch.
rabbiner Daneben wirkt Andreas Nachama als Rabbiner, ist Vorsitzender der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK) und natürlich als Historiker immer im Einsatz. »Mein Hobby ist bezahlt worden«, sagt er und lächelt.
Bereits als kleiner Junge war Andreas Nachama von Geschichte fasziniert.
Bereits von klein auf war Andreas Nachama von Geschichte fasziniert. »Meine Mutter Lilli hatte versteckt während der Schoa überlebt, und das interessierte mich natürlich. Dazu kamen die Lebensgeschichten meiner Nenn-Onkels und Nenn-Tanten, denen ich auch zuhörte.« Als das Wort »Fabrikaktion« fiel und er nicht wusste, was es damit auf sich hatte, suchte er im Lexikon. Doch dort stand nichts.
Und als er später das Rückert-Gymnasium besuchte, schrieb er für die Schülerzeitung. Dafür sollte er von der Sprengung benachbarter Häuser berichten. Er ging hin und unterhielt sich mit dem Sprengmeister. Dieser erklärte ihm alles und erwähnte beiläufig, dass er im Zweiten Weltkrieg »Warschau niedergestreckt« habe.
»So habe ich Nazis kennengelernt«, sagt Nachama. Für den Sohn Schoa-Überlebender stand seitdem fest, dass er Geschichte studieren würde. Von seinem Vater, dem berühmten Oberkantor Estrongo Nachama, lernte er auch Klavier und Gitarre. »Aber neben einer Jahrhundertstimme kann man sich schlecht behaupten«, sagt er.
STUDIUM An der FU Berlin schrieb Nachama sich für Geschichte und Judaistik ein. Ab 1978 wirkte er für zwei Jahre als wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Ruhr-Universität Bochum und arbeitete über den preußischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm. Dieses Thema qualifizierte ihn, bei den Berliner Festspielen als Koordinator mitzuwirken, als 1987 die 750-Jahr-Feier anstand.
Nachama war auch Projektleiter der »Jüdischen Lebenswelten«.
Der Martin-Gropius-Bau war zu dieser Zeit noch eine Ruine an der Berliner Mauer. Nachamas Mutter erinnerte sich, dass daneben die Gestapo ihr Domizil hatte. Von 1933 bis 1945 befanden sich an dieser Stelle die wichtigsten Zentralen des Nazi-Terrors: das Geheime Staatspolizeiamt mit eigenem »Hausgefängnis«, die Reichsführung SS, der Sicherheitsdienst (SD) der SS und ab 1939 das Reichssicherheitshauptamt. Jahrzehnte später war nichts mehr davon erkennbar.
Das schuttbeladene Gelände wurde zum Autofahrenlernen genutzt. Das ließ Nachama nicht mehr los. Zur gleichen Zeit ging eine Bürgerinitiative der Frage nach, wie das Gestapo-Kapitel dargestellt werden könne. »Uns allen war klar, dass man die Geschichte Berlins nicht als Hochglanz-Präsentation im Gropiusbau zeigen und dann die braune Geschichte einfach unter den Schuttbergen liegen lassen kann.«
Gropius-Bau »Sprechzimmer der Geschichte« war fortan Nachamas Arbeitstitel für den kleinen Pavillon neben dem Gropius-Bau, der vorübergehend die Ausstellung »Topographie des Terrors« beherbergte. Das Interesse war schnell so groß, dass die Besucher Schlange standen.
Seit 1987 war Nachama für die Dauerausstellung »Topographie des Terrors« verantwortlich, 1994 wurde er gefragt, ob er geschäftsführender Direktor der gleichnamigen Stiftung werden wolle. Er sagte nicht sofort zu. Denn zur gleichen Zeit arbeitete er als Projektleiter der »Jüdischen Lebenswelten« innerhalb der Berliner Festspiele. »Ich hing an beiden«, sagt er rückblickend. Doch die Entscheidung für die Topographie sei richtig gewesen, meint er heute.
Bis das heutige Gebäude stand, vergingen noch weitere Jahre. 2010 wurde die Schau schließlich eröffnet – und wurde zum Besuchermagneten. »Sie ist gut gelungen, ich bin heute noch zufrieden«, sagt Nachama. »Es ist eine nüchterne Dokumentation. Die Leute verlassen den Ort mit mehr Fragen als Antworten – das wollen wir auch so.«
Andreas Nachama arbeitete früher gern 24 Stunden, jetzt freut er sich auf den Ruhestand.
Seine Arbeit sei ihm immer leichtgefallen, sagt der 68-Jährige, und er habe sie ja nicht allein gemacht, sondern mit Partnern. Allerdings falle jedem Mitarbeiter das Thema schwer. Daher empfiehlt er allen, sich einen Ausgleich zu suchen. Und er? »Wenn es schlimm wird, setze ich mich hin und schreibe eine Predigt«, sagt der Vater von zwei Söhnen, die mittlerweile selbst drei Kinder haben.
Zwischendurch ließ Andreas Nachama seinen Posten für vier Jahre ruhen – als er als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin wirkte. »Das waren Turbojahre, die zählen doppelt, danach kann einen nichts mehr so schnell aus der Bahn werfen.« Früher sagte er gern, dass er 24 Stunden arbeite, und wenn die nicht reichten, dann würde er die Nacht dazu nehmen. Neben dieser Tätigkeit war er in weiteren Funktionen aktiv: von 1992 bis 1999 als künstlerischer Leiter der Jüdischen Kulturtage Berlin, von 2005 bis 2015 als Professor am Touro College Berlin.
DIALOG Eines weiß der Historiker genau: Er »geht richtig« – ohne Schreibtisch in der »Topo«. Und er wird es genießen, in Ruhe und mit Zeit morgens im Bett bei einer Tasse Kaffee seine vier Zeitungen zu lesen. Auch wartet das erste Buch von dem gerade verstorbenen Günter Kunert auf ihn, ebenso Gedichtbände. Die mag er besonders.
Und er wird verstärkt für den interreligiösen Dialog werben: als Rabbiner im »House of One« und als Vorsitzender im Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Auch wenn er da viel reisen muss. »Das mache ich nicht so gern«, gibt Nachama zu. »Ich bin lieber in Berlin.«