Ich bin sehr aufgeregt. Ich weine die ganze Zeit!» Wer wollte es ihr verdenken: 76 Jahre, nachdem sie Frankfurt verlassen musste, betrat Ines Ariel – die damals noch Inge Grünwald hieß – jetzt ihre alte Schule wieder, das Philanthropin, die heutige I. E. Lichtigfeld-Schule. Und dies zu einem besonderen Anlass: Die Seniorin, die seit Jahrzehnten in Israel lebt und noch immer hervorragend Deutsch spricht, bekam dort vergangene Woche ihr Original-Schulzeugnis ausgehändigt, das sie im Alter von neun Jahren zum letzten Mal in Händen gehalten hatte.
Der evangelische Pfarrer Volker Mahnkopp war im Hessischen Hauptstaatsarchiv darauf gestoßen, weil er die Geschichte des in seinem Pfarreibezirk ehemals beheimateten jüdischen «Kinderhauses der Weiblichen Fürsorge» erforscht, in dem auch Ines Ariel lebte. Ihr Vater – Julius Grünwald – hatte sie notgedrungen dort untergebracht, weil Inges Mutter früh gestorben war und er als alleinstehender Witwer nicht gleichzeitig das Kind versorgen und arbeiten gehen konnte.
Kinderheim «Alle waren dort immer gut zu uns», erzählt die 85-Jährige heute. Aber ihren Vater, der sie nur einmal in der Woche besuchen durfte, habe sie natürlich sehr vermisst. Es sei deshalb wunderbar gewesen, wenn er manchmal zum Philanthropin gekommen sei und ihr ein Brötchen durch den Schulzaun hineingereicht habe.
Von ihrer alten Schule erkannte sie kaum etwas wieder. «Sie müssen hier sehr umgebaut haben», sagte Ariel zu Schulleiterin Noga Hartmann und hatte damit völlig recht. Schließlich hat das 1908 erbaute Philanthropin eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Bis zur Schließung durch die Nazis 1942 eine jüdische Schule, beherbergte es später unter anderem die Musikhochschule Dr. Hoch’s Konservatorium und die Verwaltung der Jüdischen Gemeinde Frankfurt. Erst seit dem Jahr 2006 dient das Haus wieder als Schulgebäude.
Ariel erzählte im Interview mit den Lichtigfeld-Neuntklässlern Louis, Ron und Leroy von ihrem Schicksal. Als sie neun Jahre alt war, «hat mein Vater gemerkt, dass etwas passiert». Er wollte sie mit einem Kindertransport ins Ausland schicken, was «aber nicht geklappt» hat. So setzte er sich dafür ein, dass seine Tochter gemeinsam mit ihrem 16-jährigen Cousin Leo Grünwald über Genua und Barcelona zur Tante nach Uruguay ausreisen konnte. Ihr Bruder lebte bereits dort – er war nach dem frühen Tod der Mutter bei seiner Tante untergekommen.«Nur sich selbst konnte mein Vater nicht retten, er starb in Theresienstadt, zwei Jahre vor Kriegsende», erzählt Ines Ariel den Lichtigfeld-Schülern. «Man hat es mir einfach gesagt. Fertig. Es war niemand da, um mich zu trösten.»
Über Jahre und bis heute hielt sie sich seelisch mit dem Gedicht aufrecht, das ihr Vater ihr ins Poesiealbum geschrieben hatte – sie hat es heute noch: «Lerne auf eigenen Füßen stehen / Mit eigenen Augen lerne sehn / Eigene Gedanken im Kopfe tragen / Mutig die eigene Meinung sagen. / Wer so viel Eigenes errungen auf Erden / Der hat das Zeug, etwas Rechtes zu werden.»
BNei Akiwa In Uruguay fühlte sich Ariel nie zu Hause. Erst als sie dank der Organisation Bnei Akiwa 1950 nach Israel auswandern konnte, begann sie, sich geborgen zu fühlen. Im Kibbuz Saad, im Negev, wo sie nun seit sechs Jahrzehnten lebt, lernte sie auch ihren Mann, einen ehemaligen Berliner, kennen.
«Auch er hatte eine traurige Geschichte, viele seiner Verwandten sind in Auschwitz umgekommen», berichtet Ariel. Glücklich ist sie indes, wenn sie von ihren drei Kindern, ihren elf Enkeln und sechs Urenkeln umgeben ist, die ihr zum 85. Geburtstag «eine riesige Feier» organisierten. An Frankfurt selbst erinnert sich Ariel gern zurück.
«Es macht mir Spaß, die Straßennamen zu lesen.» Erinnerungen bergen für sie auch der Main und der Palmengarten. Und seit ihrem Besuch auch ein Stolperstein, der in ihrem Beisein vor ihrem alten Wohnhaus am Musikantenweg für ihren Vater, ihren Bruder und sie selbst – also für Julius, Edgar und Inge Grünwald – gelegt wurde.
Der Stein ist einer von 71, die in der vergangenen Woche in Frankfurt verlegt wurden. Mit der Kritik, die von manchen an der Verlegung der Steine ausgeübt wird, kann Ariel nichts anfangen, dafür hat sie nur Kopfschütteln übrig. «Ich freue mich, dass das nun aufgeschrieben ist. Das ist ein sehr wichtiges Gedenken. Jedes Andenken ist wichtig!»
Auch der in den USA lebende Michael Jacobius, für dessen Vater Hans ein Stolperstein verlegt wurde, war davon «zutiefst berührt und sehr dankbar». Und auch Enkelsohn Daniel war bewegt und voll des Lobes dafür, dass das Andenken an seinen Großvater und dessen Schicksal gewahrt bleibt. Schließlich habe der gewaltsame Tod des Großvaters das gesamte Leben seines Vaters Michael beeinflusst.
Buchenwald Hans Jacobius lebte mit seiner Frau Margaret – ebenfalls einer ehemaligen Schülerin des Philanthropins – in Frankfurt, bis er am 10. November 1938 mit anderen Frankfurter Juden in der Festhalle zusammengetrieben und nach Buchenwald deportiert wurde. Sechs Wochen später war Hans Jacobius tot.
Seine Frau emigrierte daraufhin mit ihrem Baby Michael und ihren Schwiegereltern. Der Schwiegervater verkraftete jedoch die Strapazen nicht und starb auf einem Zwischenstopp in England. Die beiden Frauen und das Kind erreichten einige Wochen später New York und damit ihre neue Heimat.