München

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Zeitzeuge Natan Grossmann (r.) mit Regisseurin Tanja Cummings und Jens-Jürgen Ventzki, Sohn des früheren Oberbürgermeisters von Lodz Foto: Marina Maisel

Über das dunkelste Kapitel seines Lebens schwieg Natan Grossmann mehr als ein halbes Jahrhundert. »Ich wollte die Zeit einfach aus meinem Gedächtnis streichen«, sagt der Mann, der das Ghetto im polnischen Lodz (damals Litzmannstadt) überlebt hat.

70 Jahre nach dem Grauen hat sich alles verändert. Natan Grossmann, Mitglied der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, ist auf der Spurensuche nach seinem verschollenen Bruder nach Lodz zurückgekehrt. Die Filmemacherin Tanja Cummings hat ihn dabei begleitet, entstanden ist die 100-Minuten-Dokumentation Linie 41, die im Rahmen der Jüdischen Filmtage im Januar zum ersten Mal in München gezeigt wurde.

erinnerungen Seine Rückkehr nach Lodz ist für Natan Grossmann eine hoch emotionale Konfrontation mit der Vergangenheit. Je mehr er über den Bruder in Erfahrung bringt, desto mehr Erinnerungen an die Eltern, seine Jugend und das Leben und Sterben im Ghetto melden sich zurück. Eine wesentliche Rolle dabei spielt auch Jens-Jürgen Ventzki. Er ist der Sohn des damaligen Nazi-Oberbürgermeisters der Stadt – und erforscht seit Langem die Verstrickung seines Vaters in das NS-Unrechtsregime. Beide sind die Hauptpersonen von Cummings’ Film.

Nach der Filmvorführung im NS-Dokumentationszentrum sitzen Natan Grossmann und Jens-Jürgen Ventzki beim Zeitzeugengespräch ganz entspannt nebeneinander. Ihre Wege haben sich in Lodz gekreuzt, jetzt sind sie Freunde. Hindernisse gibt es nicht. »Man kann doch nicht den Sohn für die Taten des Vaters beschuldigen«, ist Natan Grossmann überzeugt.

Wie unterschiedlich der Blickwinkel der beiden Männer ausfällt, belegt die Dokumentation auf eindrucksvolle Weise. Natan Grossmann erlebte als Jugendlicher, wie sein Vater erschlagen wurde und seine Mutter verhungerte. Jens-Jürgen Ventzki dagegen war als Junge auf seinen Vater stolz, lernte ihn als liebevollen Menschen kennen, wie er sagt. »Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Vater Verbrecherisches getan hat«, sagte er bei der Veranstaltung im NS-Dokumentationszentrum.

Vergangenheit Wie in vielen Familien wurde auch bei ihm zu Hause nicht über die NS-Zeit gesprochen. Er selbst sei gar nicht erst auf die Idee gekommen, dass sein Vater in die Verbrechen verstrickt sein könnte. »Oberbürgermeister«, so Ventzki nachdenklich, »war für mich ein ziviler Beruf.«

Die Historikerin Andrea Löw vom Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte München, die die Veranstaltung moderierte, lässt keine Zweifel an der Rolle von Jens-Jürgen Ventzkis Vater aufkommen. In einer Studie über Juden im Getto Litzmannstadt (Wallstein-Verlag, Göttingen 2006) hat sie dessen Strukturen akribisch untersucht. »Das Ghetto in Lodz«, stellte sie beim Zeitzeugengespräch klar, »wurde zivil verwaltet – und unterstand direkt dem Bürgermeister.«

Lodz war das zweitgrößte Ghetto der Nazis. Vier Jahre lang waren dort 160.000 Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht, 46.000 von ihnen kamen um. Die Fragen, die sich Natan Grossmann in diesem Zusammenhang immer wieder stellt, sind nach wie vor nicht zu beantworten: »Die meisten Juden waren einfache, arme Arbeiter. Was haben sie getan? Was haben sie verschuldet, um so leiden zu müssen?«

Widerstand Die späte Reise auf den Spuren seines Bruders Ber, der eigentliche Anlass, warum Natan Grossmann nach Lodz zurückkehrte, war ein schmerzlicher Akt, wie der Film zeigt. Doch in all der Betrübnis, der er sich aussetzte, gibt es auch einen Lichtblick, der die Familiengeschichte erhellt. Bruder Ber, findet Natan Grossmann nach und nach heraus, hat Widerstand geleistet.

Um herauszufinden, was in Chelmno (Kulmhof) geschah, wohin so viele Menschen deportiert wurden, ließ sich Ber offenbar am 6. März 1942 für einen Transport einteilen. Zurück kam er allerdings nicht mehr. Chelmno, was damals keiner wusste, war eine Mordanstalt der Nazis, aus der es kein Entrinnen gab. 152.000 Juden wurden dort ermordet, 4000 Sinti und Roma sowie eine unbekannte Zahl russischer Kriegsgefangener.

Natan Grossmann, der mit 17 Jahren aus dem Ghetto nach Braunschweig verlegt wurde und dort in den Büssing-Werken arbeiten musste, landete schließlich im Lager für Displaced Persons in Landsberg und wanderte kurz darauf nach Israel aus. Erst Jahre später und durch eine Krankheit gezwungen, kehrte er ins Land der Täter zurück.

Rechenschaft Was für ein Unterschied zu Jens-Jürgen Ventzki, seinem heutigen Freund. Der blieb von der dunklen Vergangenheit seines Vaters jahrzehntelang unberührt. Die dunkle Phase als Bürgermeister von Lodz war in der Familie niemals ein Thema. Das lag auch daran, dass Jens-Jürgen Ventzkis Vater Werner von der Justiz nie in irgendeiner Form zur Rechenschaft gezogen wurde.

Ganz im Gegenteil. Im Deutschland der Nachkriegszeit machte er schnell als Beamter Karriere, arbeitete in Bonn und Kiel im Sozialministerium. Erst 1990 wurde dem Sohn klar, dass die Behauptungen in seinem Elternhaus, mit den Verbrechen der Nazis keine Berührungspunkte gehabt zu haben, nicht der Wahrheit entsprachen.

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