Neujahr

Solidarität und Beistand

Im Vertrauen darauf, die Hindernisse am Ende überwinden zu können: Honig und Apfel als Symbole für ein süßes neues Jahr Foto: Marina Maisel

Rosch Haschana ist für uns eine Zeit der Reflexion und des Ausblicks. An der Schwelle zum neuen Jahr steht es uns auch jetzt wieder an, uns selbst und unsere Umgebung genau zu betrachten und festzustellen, wo wir als Individuen, aber auch als jüdische Gemeinschaft in diesem Land heute stehen.

Eine solche Standortbestimmung muss angesichts der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen zwölf Monate betrüblich ausfallen. Antisemitische Übergriffe nehmen weiterhin zu, Gegenmaßnahmen wirken, wenn überhaupt, dann nur langsam, und die Verunsicherung der jüdischen Menschen in Deutschland lässt sich mit einer Zahl beschreiben: 44 Prozent.

umfrage So groß ist laut der Umfrage der europäischen Grundrechteagentur vom Dezember vergangenen Jahres der Anteil derer, die schon einmal aktiv über eine Auswanderung nachgedacht haben, und ich persönlich wäre überrascht, wenn eine neue Umfrage heute wesentlich andere Ergebnisse zeitigen sollte.

Solche Zahlen fallen nicht vom Himmel. Der abnehmende gesellschaftliche Zusammenhalt, eine Kultur des kurzen Geduldsfadens und immer mehr Beleidigungen sowohl online als auch offline – nicht nur, aber ganz besonders gegen die jüdische Gemeinschaft gerichtet – sind deutliche Anzeichen dafür, dass die Dinge in unserem Land sich in vielerlei Hinsicht in eine bedenkliche Richtung entwickeln. Beispiele hierfür gibt es viele, von den antisemitischen Übergriffen, die sich erst im Sommer in München ereigneten, bis zu den diversen Wahlergebnissen des letzten Jahres.

landtagswahlen Hier sind es die teils außerordentlichen Erfolge der AfD bei den Landtagswahlen im vergangenen Oktober bei uns in Bayern, aber auch und besonders jüngst in Sachsen und Brandenburg, die uns Sorgen bereiten. Die Wahlergebnisse waren erneut Wasser auf die Mühlen einer antidemokratischen Partei, die sich gern als »bürgerliche Kraft« und als oberste Sachwalterin des Rechtsstaats geriert – und die doch nichts anderes verfolgt als eine Agenda der Intoleranz und des gesellschaftlichen Unfriedens.

Die Wahlergebnisse waren erneut Wasser auf die Mühlen einer antidemokratischen Partei, die sich gern als »bürgerliche Kraft« und als oberste Sachwalterin des Rechtsstaats geriert.

Als Bürger muss uns dabei besonders alarmieren, wenn inzwischen der Wähler selbst oft derjenige ist, der die demokratischen Institutionen unseres Landes mit seiner Stimme zu einer Bühne für Antidemokraten degradiert. Wie verbreitet dieses Problem bereits ist, konnten wir nicht zuletzt anlässlich der Europawahl im Mai beobachten, bei der Parteien der radikalen und ex­tremen Rechten in mehreren europäischen Kernländern zur stärksten Kraft wurden. Solche Triumphe der politischen Ränder sind eine Folge, aber auch ihrerseits Antrieb der zunehmenden gesellschaftlichen Verrohung, die uns als Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft ganz direkt betrifft und bedroht.

Judenhass, das haben wir immer wieder überdeutlich gesehen, ist in unserem Land bis heute keineswegs überwunden. Im Gegenteil, das Unwohlsein, das Unbehagen und die Verunsicherung nehmen wieder zu. Wer auf der Straße mit Kippa unterwegs ist oder sich in anderer Weise als jüdisch zu erkennen gibt, bekommt es im besten Fall mit unangenehmen Fragen zu tun – im schlimmsten Fall dagegen mit handfesten Beleidigungen oder sogar körperlichen Übergriffen. Daran hat sich auch im gerade zu Ende gehenden Jahr 5779 leider G’ttes nichts geändert.

bewusstseinswandel Umso wichtiger ist es, dass Politik und Gesellschaft bei der Bekämpfung dieses wachsenden Problems auch weiterhin an einem Strang ziehen.

Erfreulicherweise hat hier in den vergangenen Jahren ein Bewusstseinswandel im Hinblick auf den erstarkenden Antisemitismus stattgefunden, der auch institutionelle Veränderungen zur Folge hatte – allen voran die verschiedenen Beauftragten zur Antisemitismusbekämpfung, die inzwischen in der Politik, aber auch in den Sicherheitsbehörden ernannt wurden und deren Etablierung die jüdischen Gemeinden von der Bürde befreit hat, das Antisemitismusproblem allein im öffentlichen Bewusstsein zu halten. Dank ihnen sind wir als jüdische Gemeinschaft heute nicht mehr in der misslichen Lage, die Mehrheitsgesellschaft selbst auf ihre Beistandsverpflichtung aufmerksam machen zu müssen.

Es ist wichtig, dass Politik und Gesellschaft auch weiterhin an einem Strang ziehen.

Doch auch unter diesen veränderten Umständen bleibt es dabei: Gute Absichten allein werden das Problem nicht lösen. Gebraucht werden Taten und klare Signale, gebraucht werden ein politisch-gesellschaftlicher Aufschrei gegen Judenhass und eine gemeinschaftliche Strategie gegen die Verunsicherung, die in der jüdischen Gemeinschaft heute vielerorts vorherrscht. Die aktuelle junge jüdisch-deutsche Generation, die in diesem Land aufgewachsen ist und die keine andere Heimat kennt, darf dieser Heimat nicht verlustig gehen wie andere Generationen vor ihr.

renaissance Die Renaissance jüdischen Lebens, die uns allen so viel Freude bereitet, darf sich unter dem Eindruck von politischer Radikalisierung und gesellschaftlicher Fragmentierung nicht in ihr Gegenteil verkehren. Die Politik hat das Problem verstanden, wie nicht zuletzt der viel beachtete Besuch des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder in der Hauptsynagoge Mitte September gezeigt hat.

Seine Worte und sein ganz persönliches Eintreten gegen den Antisemitismus, dessen Wut und Menschenhass nicht allein uns als jüdische Gemeinschaft, sondern die gesamte Gesellschaft bedrohen, waren ein willkommenes Signal von Solidarität und Beistand in einer leider immer schwieriger werdenden Zeit.

Auf diese positiven Zeichen müssen wir auch im kommenden Jahr bauen – in der Diaspora ebenso wie in Israel. Es war stets das Vertrauen darauf, den Herausforderungen der Zeit begegnen und die Hindernisse am Ende überwinden zu können, das das jüdische Volk durch die Jahrhunderte getragen hat. Auch wir, die wir uns vielen Problemen gegenübersehen, tun daher gut daran, die Zuversicht nicht zu verlieren. In München, in Bayern und überall: Unsere Heimat, unser Leben in Freiheit und unseren Glauben an die Zukunft geben wir nicht her, geben wir nicht auf.

In diesem Sinne wünsche ich allen Gesundheit, Sicherheit und Erfolg, und insbesondere dem Staat Israel Frieden. Möge G’ttes Segen uns alle stets begleiten! Schana towa – gmar chatima towa!

Frankfurt/Main

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