Seit Wochen kommt Chemnitz nicht zur Ruhe. Auf den gewaltsamen Tod des 35-jährigen Daniel H. Ende August durch mehrere Messerstiche folgten rechtsradikale Aufmärsche und spontane Angriffe auf »nichtdeutsch« aussehende Menschen. Binnen kürzester Zeit ist ein Klima der Angst und Verunsicherung entstanden. Ebenfalls Ende August bewarfen Vermummte das jüdische Restaurant »Schalom« mit Steinen und Metallgegenständen und brüllten antisemitische Parolen.
Damit die Stadt nicht zum Risiko-Ort für Juden wird, hat Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) klare Signale gesetzt. In der vorvergangenen Woche besuchte er das Restaurant, und am Schabbat Wajelech war er zu Gast in der jüdischen Gemeinde. »Wir freuen uns riesig über ihr Kommen«, begrüßte ihn Gemeindevorsitzende Ruth Röcher, »gerade jetzt, wo die jüngsten Ereignisse so viele Menschen, und natürlich auch uns, verunsichern.«
Bedrohung Die neue Ungeschütztheit war dann auch das beherrschende Thema bei der Gesprächsrunde im Gemeindezentrum an der Stollberger Straße. Einige Gemeindemitglieder äußerten ihre Zweifel, ob der Rechtsstaat noch Herr der Lage sei. Ihr Gefühl der Bedrohung speist sich zum einen aus den vermehrt auftretenden rechtsextremen Aktivitäten und neonazistischen Übergriffen, zum anderen aus den bekannt gewordenen Straftaten durch in den letzten Jahren aufgenommene Flüchtlinge. Das führe zu der Angst, ob Synagoge und Gemeindezentrum ohne ständige Polizeipräsenz noch ausreichend geschützt seien.
»Ich kann Ihre Ängste gut verstehen«, betonte Kretschmer und bot spontan eine engere Zusammenarbeit zwischen Landesregierung, Gemeinde und Chemnitzer Polizeipräsidium an. Als Nächstes solle überprüft werden, ob die jüdischen Einrichtungen der Stadt ausreichend gesichert sind. Außerdem ließ der Ministerpräsident durchblicken, dass der Freistaat Sachsen die Einsetzung eines eigenen Antisemitismusbeauftragten erwägt.
Kontakt Spürbar intensiver als seine Vorgänger sucht Kretschmer, der seit Dezember 2017 im Amt ist, den Kontakt zu religiösen und ethno-kulturellen Minderheiten in Sachsen. Schon bei den Chemnitzer Tagen der jüdischen Kultur im März dieses Jahres war er zu Gast in der Gemeinde. »Seien Sie gewiss, dass ich vor und hinter Ihnen stehe, und erst recht dann, wenn sich Feindschaft gegen das neue jüdische Leben in unserem Land regt«, betonte er nun.
Einig war sich der 43-Jährige mit den Gemeindemitgliedern auch darin, dass das öffentliche Klima nicht von Populisten, Radikalen und Militanten verdorben werden darf. »Es kann nicht sein, dass demokratische Prinzipien und ethische Werte einfach radikal infrage gestellt werden. Lassen Sie uns gemeinsam dagegen angehen«, forderte Kretschmer die Anwesenden auf.
Dass die Chemnitzer Juden – die überwiegende Mehrheit von ihnen kam in den 90er-Jahren aus der früheren Sowjetunion – bisher sehr gern in der Stadt leben, unterstrich nicht nur die Gemeindevorsitzende. »Wir verstehen uns schon lange als Teil der Stadt, haben Arbeit und Freunde gefunden und sind dankbar für die enorme Unterstützung unsere Gemeinde«, betonte Gemeindevorstand Anatol Oratovski. »Wir wollen auch weiterhin offen sein für die verschiedensten Bevölkerungsgruppen und gemeinsam Front machen gegen Hetze und Rassismus.«
Akuten Handlungsbedarf sieht die Gemeinde bei jungen Menschen, die wenig Kenntnis von Nationalsozialismus und Schoa, jüdischer Kultur und Geschichte haben. Häufig seien sie bevorzugte Adressaten von rechtsextremen Demagogen. Michael Kretschmer, der im Anschluss an den Gemeindebesuch lokale Chemnitzer Projekte und Initiativen gegen Rassismus und Gewalt besuchte, ermunterte ausdrücklich dazu, ihn und die Landesregierung bei künftigen Problemen direkt und sofort zu kontaktieren.