Kiril ist aufgebracht: »Wir sollten uns nicht verstecken, wir sollten unser Judentum weiterhin ausleben«, sagt der 21-Jährige. Erst recht nach den Anschlägen von Brüssel. Der Student aus Hannover will sich nicht einschüchtern lassen. »Der Terror ist eine Gefahr für uns, für Europa, unsere westlichen Werte. Wir müssen endlich handeln«, findet Kiril und meint damit vor allem den von allen Seiten angemahnten Datenaustausch in Europa etwa über Auslandskämpfer, die nach Syrien gegangen sind und nun als potenzielle Attentäter zurückkehren.
»Die wichtigste Antwort auf Terror ist, eine selbstbewusste Gesellschaft aufrechtzuerhalten«, hatte Peter Neumann, Experte für islamistischen Terrorismus am King’s College in London, kurz zuvor unter Applaus im Vortragsraum gleich nebenan noch gefordert und ebensolche Präventionsmaßnahmen wie das Zusammenrücken der Sicherheitsdienste und Datensysteme dringend angemahnt.
Perspektive Bei den meisten der rund 400 Teilnehmer des Jugendkongresses, zu dem der Zentralrat und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland in ein Hotel in Frankfurt eingeladen hatten, stoßen seine Ermutigungen und Forderungen auf offene Ohren. Vier Tage lang befassten sich die jungen Besucher in zahlreichen Vorträgen, Workshops und Podiumsgesprächen mit der Terrorgefahr und den Herausforderungen und Perspektiven, vor die sich die westliche Gesellschaft durch den islamischen Fundamentalismus gestellt sieht. Ein Thema, das durch die Anschläge in Brüssel traurige Aktualität erhielt. »Nicht gerade ein unbeschwertes, aber ein mega-interessantes Thema und mit tollen Referenten besetzt«, lobt der 21 Jahre alte Noam aus Konstanz.
Er ist zum ersten Mal auf einem Jugendkongress – weil ihn die Thematik reizt, aber auch, weil er viele nette Menschen kennenlernen will. »Die Purim-Feier war super«, erzählt er lachend. Diskussionen über Terror, Gewalt und Fundamentalismus sind dem jungen Juden nicht neu, die muss er wegen des andauernden Nahost Konflikts auch im Kreise seiner Bekannten und Kommilitonen führen. »Ich sage dann immer: Hey, ich bin Deutscher, ich bin nicht israelischer Regierungssprecher.« Noam studiert im vierten Semester Wirtschaftswissenschaften, sein fünftes Semester wird er in Tel Aviv verbringen, darauf freut er sich schon sehr. Dann wird er den Alltag in Israel kennenlernen können, aber möglicherweise auch das Leben unter Bedrohung miterleben.
betroffenheit »Wir müssen davon ausgehen, dass wir in Europa erst am Beginn einer neuen Terrorwelle stehen«, hatte Referent Peter Neumann gemutmaßt. In Sachen Aufbau und Struktur der Sicherheitsapparate könne Europa dabei von Israel lernen – auch was es bedeute, mit dem Terror umzugehen und damit zu leben, so der Professor. Dieser Ansicht ist auch Severin. »Wenn ich zuvor Diskussionen über Israel geführt habe, habe ich sehr viel Arroganz erlebt«, erzählt er. »Doch jetzt sind wir selbst betroffen, und vielen wird plötzlich bewusst, was es heißt, unter Terrorgefahr zu stehen. Vielleicht kann Europa ja wirklich von Israel lernen«, sagt der 26-jährige Münchner.
Auch Severin nimmt erstmals am Jugendtreffen teil. Erst vor Kurzem ist er der jüdischen Gemeinde beigetreten, hat »seine Wurzeln entdeckt«. Seine Mutter ist Jüdin, doch die Religion spielte in der Familie keine Rolle. »Ich erlebe gerade meine Identitätsfindung«, erzählt er, daher schätzt er das Netzwerk, das er beim Kongress knüpfen kann, und die vielen Kontakte zu jüdischen Jugendlichen. »Eine herzliche, tolle Atmosphäre«, freut er sich.
Igor dagegen war schon auf mehreren Treffen der jüdischen Jugend. Nach Frankfurt ist der 28-Jährige gekommen, weil er im nahen Mainz lebt und ihn das Thema sehr interessiert, sagt er. Sein Freund Roman aus Augsburg zieht ihn scherzhaft damit auf, dass er eigentlich nur wegen der netten jungen Frauen zum Kongress gereist sei. Igor, der Wirtschaftsingenieurwesen studiert hat, grinst, kehrt dann aber zum Thema zurück und erzählt von seinen Befürchtungen, dass auch in Deutschland bald Anschläge verübt werden könnten. »Die Bedrohung wird immer konkreter«, findet er und berichtet, dass er sich in der vollen S-Bahn mittlerweile seine Mitreisenden ganz genau ansehe. »Man hat irgendwie ein mulmiges Gefühl«, gibt er zu. Roman ist da entspannter. »Ich fühle mich noch sicher«, sagt der BWL-Student. Bisher habe er keine negativen Erfahrungen gemacht.
Die 21-jährige Valeria besucht insbesondere die Vorträge beim Kongress, die Israelis halten. »Dort ist man mit Terror schon viel länger konfrontiert.« Die Frankfurter Publizistik-Studentin will mit eigenen Ohren hören, wie dort der Alltag trotzdem gelebt wird. Für Katja hat sich seit Brüssel nicht so viel verändert. »Ich hatte auch zuvor schon ein sehr ausgeprägtes Bewusstsein für die Gefahr, aber es ist wichtig, sich anhand von Vorträgen und Diskussionen damit näher zu befassen. Die Essener Steuerfachfrau glaubt, dass man sich an den Gedanken gewöhnen kann, »auch das Umsehen im Bus oder der vollen S-Bahn wird wenig nützen«.
Referent Neumann hatte in seiner Rede analysiert: Zweck des Terrors sei es, Europa und seinen Menschen ein Gefühl der Machtlosigkeit zu vermitteln, dem die Gesellschaft trotzen müsse. Ihr Verhalten, sagt Katja denn auch, werde sie nicht ändern. Sie will weitermachen wie bisher. Beim Kongress jedenfalls freut sie sich darauf, alte Freunde wiederzutreffen, ohne gleich durch ganz Deutschland reisen zu müssen. Diese Freude werde ihr Brüssel nicht nehmen.
potenzielle Ziele Katharina zieht gerade von Karlsruhe nach Frankfurt um. Sie hat Internationale Wirtschaftsbeziehungen und interkulturelle Kommunikation studiert und will sich eine neue Stelle suchen. Sie mag die Stadt, doch die Mainmetropole mit ihren europäischen Einrichtungen, Banken und dem Flughafen könnte auch ein potenzielles Ziel sein, fürchtet sie. Die 26-Jährige engagiert sich für Taglit, ein Projekt, das auf der Idee beruht, dass jeder junge Jude zwischen 18 und 26 Jahren das Geburtsrecht hat, wenigstens einmal im Leben Israel zu besuchen. Katharina betont, wir unterschiedlich Deutsche und Israelis mit der Terrorgefahr umgehen. »In Israel lebt und feiert man weiter, in Deutschland wird alles bis ins Detail besprochen und debattiert.«
Katharinas Freundin Ina aus München findet die Reflexion sehr wichtig. Die unterschiedlichen Sichtweisen der Experten aus verschiedenen Branchen wie Polizei oder Medien, wie sie auf dem Jugendkongress angeboten werden, halten beide Frauen für sehr hilfreich. »Es kann täglich etwas passieren. Sicher ist man vielleicht nirgendwo, aber man muss ja irgendwie weiterleben«, sagen sie. Die Debatten auf dem Kongress können dabei helfen.