Das Forum des Heinrich-von-Kleist-Gymnasiums war fast bis auf den letzten Platz besetzt, als Abraham Lehrer, der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, am Dienstag vergangener Woche die Schule besuchte, um im Rahmen der Diskussionsreihe »Herausforderung Zukunft« mit Schülern zu diskutieren. Lehrer schlug den Schülern vor Beginn der Veranstaltung vor, ihn zu duzen, und sorgte so von Anfang an für eine aufgelockerte und gleichberechtigte Gesprächsatmosphäre, die die gut 90 Minuten prägen sollte.
Abraham Lehrer hielt dann auch keine lange Rede, nur kurz stellte er sich vor: Seine Eltern seien in Polen geboren und hätten auf dem Land gelebt. Sein Vater habe den Holocaust in Arbeitslagern überlebt, aus denen er immer wieder geflohen sei. Seine Mutter überlebte Auschwitz. Nach dem Ende der Nazizeit seien beide in die USA ausgewandert, wo Lehrer geboren wurde. Kurz nach seiner Geburt sei die junge Familie dann aus den USA nach Köln zurückgekehrt. »Eigentlich hat das niemand gemacht – Juden zogen nicht aus Amerika nach Europa. Und schon gar nicht nach Deutschland. Wir waren eine absolute Ausnahme«, erzählt Lehrer.
fragen Dann konnten die Schüler und Schülerinnen Fragen stellen. Drei Fragen waren sehr persönlich: Was Lehrers größter Erfolg gewesen sei, was er anders machen und was er sich für die Zukunft wünschen würde, wollten die Jugendlichen wissen.
Der größte Erfolg sei für ihn gewesen, sagte Lehrer, dass er in der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland daran mitgearbeitet habe, dass es gelang, die über 220.000 Menschen aus Osteuropa zu integrieren, von denen die Hälfte heute Mitglieder in den jüdischen Gemeinden seien. Was er gerne anders gemacht hätte? »Ich hätte mir gewünscht, dass sich unsere Gemeinden früher öffnen. Heute ist das so, aber lange Zeit war alles sehr verschlossen. Viele, die jetzt unsere Gemeinden besuchen, stellen oft ganz verwundert fest, dass Juden ganz normale Leute sind. Aber wenn man jung ist, gehört man nun einmal nicht zu denen, die eine Gemeinde lenken.«
Was er sich für die Zukunft wünscht, würden sich laut Lehrer auch viele andere Juden wünschen: dass es nicht mehr nötig ist, dass die Polizei die Gemeinden schützen muss und jeder Besucher erst kontrolliert wird, bevor er eine Synagoge oder ein Gemeindezentrum aufsucht. »Aber dieser Wunsch wird leider nicht so schnell Wirklichkeit werden«, bedauerte Lehrer.
erfahrungen Damit kam er gleich auf die nächsten Fragen, den Antisemitismus betreffend, zu sprechen. Die Jugendlichen wollten wissen, ob Lehrer Antisemitismus persönlich erfahren hat, von wem dieser ausgeht und ob er zu- oder abnimmt. Lehrer berichtete daraufhin, dass er in seiner jetzigen Position wenig direkten Antisemitismus erfahre. Das sei aber früher anders gewesen.
Als Student etwa habe er einmal einer Kommilitonin beim Umzug helfen wollen. Sie habe ihm mitgeteilt, ihre Eltern dürften ihn nicht sehen – sie seien überzeugte Nazis und möchten keinen Kontakt zu Juden. Auch hätten Neonazis seiner Tochter am Bahnhof einmal gesagt, »sie müsste vergast werden und ihre Eltern auch«. »So etwas wirkt nach«, meinte Lehrer.
Der Antisemitismus habe nicht abgenommen. Er sei vielmehr inmitten der Gesellschaft angekommen. Und es gebe ihn »von links, von rechts und von muslimischer Seite«. Der Zentralratsvize rief die Jugendlichen dazu auf, wachsam zu sein: »Dass wir in einer Demokratie und im Frieden leben, ist nicht selbstverständlich. Wir müssen die Demokratie jeden Tag aufs Neue verteidigen.«
AFD Wachsam zu sein, bedeutet für Lehrer auch, vor der AfD zu warnen. »Die AfD hat versucht, in den Gemeinden für sich zu werben. Aber eine Partei, die das Schächten verbieten will, ist für Juden nicht wählbar. Mir sagt die AfD immer, dass damit nur die Praxis der Muslime gemeint sei, aber was bedeutet das schon? Das Wort Muslime gegen Juden auszutauschen, dauert nur ein paar Sekunden.«
Abraham Lehrer sagte den Schülern, er hoffe, dass die AfD bei den Wahlen im September nicht in den Bundestag kommt. »Aber ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass mein Wunsch in Erfüllung geht. Sie werden wohl hineinkommen, wenn auch nicht so stark, wie es noch vor ein paar Monaten zu befürchten war.« Bislang seien alle rechten Parteien, ob DVU, NPD oder Republikaner, nach einiger Zeit wieder aus den Parlamenten verschwunden. »Ich hoffe, so wird es auch diesmal kommen.«