Ein kleiner angemieteter Raum mitten in einer Wohnsiedlung von Minsk. Aus Israel ist per Post ein großes Lebensmittelpaket angekommen. Einen Esstisch gibt es nicht, stattdessen werden die Teller mit den Leckereien auf den kleinen Holzstühlen verteilt. Es ist Frühjahr 1992, und an diesem Abend sitzen die Juden in aller Welt zum Pessachseder zusammen. »Diesen Tag werde ich nie vergessen«, erinnert sich Inessa Lipskaja, »das war der erste Seder, den wir damals mit dem Minsker Studentenverband organisiert haben. Wir hatten zwar nicht viel, aber es war trotzdem toll.«
Inzwischen gehört die Zeit in Minsk für Inessa Lipskaja der fernen Vergangenheit an, Düsseldorf ist ihre neue Heimat. Doch das Organisieren von Veranstaltungen zählt nach wie vor zu ihren Vorlieben. Deshalb ist sie seit mehr als drei Jahren die Eventmanagerin der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf. Hunderte Mitglieder feiern hier jedes Jahr gemeinsam Pessach. Der Tisch ist reich gedeckt, es mangelt an nichts. Auch jedes andere jüdische Fest ist ein Event dank ihr: aufregend, interessant und meist stark umworben.
Facebook & Co. sind für die Gemeinden deshalb schon längst kein Tabu mehr. Die Arbeit mit sozialen Netzwerken gehört für Inessa Lipskaja zum festen Bestandteil ihres beruflichen Alltags. »Ich denke, man muss die Leute dort abholen, wo sie sind. Das Judentum ist modern, das muss auch genutzt werden. Es muss interessant und auf keinen Fall verstaubt wirken. Sonst werden wir die Menschen nicht erreichen.«
Werbeflyer Modern sind auch die Flyer, die für alle jüdischen Veranstaltungen entworfen werden. Bunt, schrill und aufwendig gestaltet, kündigen die DIN-A5-Blätter auf Hochglanzpapier die tollsten Erlebnisse an einem einzigen Abend an. Zu Pessach, dem bedeutendsten Feiertag im jüdischen Jahr, verspricht die Gemeinde Düsseldorf alles, was das jüdische Herz begehrt: »Besonderer Pessachteller für jeden Gast«, »Einmalige Pessach-Gesangsperformance« und »Feinste Pessach-Spezialitäten in bester jüdischer Tradition«.
»Beim Entwerfen des Flyers haben wir wirklich an jedem Wort gefeilt«, erzählt Lipskaja, »denn es muss schließlich cool wirken.« Nicht, so sagt sie, weil sich die Gemeinde dadurch einen noch größeren Andrang der jungen Gemeindemitglieder erhofft, »sondern einfach weil wir unsere Arbeit gut machen wollen«.
Doch der hohe Werbeaufwand der Gemeinden kurz vor Pessach hat seine Berechtigung – auch aus rabbinischer Sicht. Der Dortmunder Gemeinderabbiner Avichai Apel erklärt es mit dem besonderen Stellenwert von Pessach: »Pessach ist an sich schon ein Riesenevent, nicht nur in der Gemeinde, sondern auch in der Familie. Die Besonderheit des Fests steckt darin, dass dabei die Geschichte des Judentums von Generation zu Generation weitergegeben wird. Das macht Pessach so bedeutend und zugleich sehr modern.«
Deshalb sei es auch so wichtig, viele verschiedene Altersgruppen in die Gemeinden kommen zu lassen – damit die Jungen von den Älteren lernen und es auch an ihre Kinder weitergeben können. »Indem wir die Kleinen nach dem Afikoman suchen lassen, wecken wir in ihnen den Wunsch, auch künftig diese schöne Tradition von Pessach beizubehalten.«
Drei-Tage-Juden Allerdings, das gibt Rabbiner Apel offen zu, gebe es in jeder Gemeinde die »Drei-Tage-Juden«, die ausschließlich zu den Hohen Feiertagen ihre Heimatgemeinde besuchen. So sei die Werbung über soziale Netze zwar sinnvoll, häufig habe sie aber nur einen oberflächlichen Effekt. »Als Rabbiner wünsche ich mir natürlich, dass die Leute häufiger auch einmal vor den Feiertagen in die Synagoge kommen würden, um mehr darüber zu lernen.« Aber »wer sagt, dass sich jeder tiefgründig mit seiner Religion beschäftigen muss?«, fragt Apel.
Gerade in dieser Frage steckt die Problematik, mit der sich die Gemeinden in Deutschland heute konfrontiert sehen. Übertrumpft heutzutage die Tradition die religiösen Riten? Nimmt man beispielhaft die Jüdische Gemeinde Düsseldorf, so ist man hier stolz darauf, deutschlandweit die drittgrößte Gemeinde zu sein. Es gibt einen jüdischen Kindergarten, ein Schulzentrum und eine jüdische Kulturakademie. Jüdisches Leben blüht hier wieder auf, und die Menschen fühlen sich dank dieser Infrastruktur der Gemeinde zunehmend verbunden.
Mit knapp 7000 Mitgliedern müssten also die Räume der Gemeinde – so könnte man meinen – jede Woche aus allen Nähten platzen. Allerdings gehören 45 Prozent der Altersgruppe 60 plus an. Von ihnen schaffen es die wenigsten am Freitagabend zum Schabbat oder zum regulären Morgengebet in die Synagoge. Auch Gemeindeaustritte sind hier nicht zu vermeiden: Allein im Jahr 2013 sind laut Statistik etwa 50 Menschen aus der Gemeinde in der Landeshauptstadt ausgetreten.
Hinzu kommt, dass knapp 87 Prozent der Gemeindemitglieder in Düsseldorf aus der ehemaligen Sowjetunion stammen. »Dort waren sie ihren jüdischen Traditionen meist total entkoppelt«, sagt Inessa Lipskaja, »hier angekommen haben sie zwar den Wunsch nach Religion, wissen aber häufig nicht, welchen Weg sie dazu einschlagen sollen. Wir sind da, um ihnen diesen Schritt zu erleichtern.«
Traditionspflege Eine Brücke zu schlagen, das versuchen die Gemeinden vor allem an den Feiertagen, und das sehr erfolgreich: Jedes Jahr besuchen an Pessach mehrere Hundert Mitglieder die Gemeinde. Starke Zusammenarbeit der jüdischen Einrichtungen ist beim Organisieren von Veranstaltungen die Grundvoraussetzung. »Allein könnten wir das nicht stemmen«, weiß Inessa Lipskaja.
»Wenn wir etwas Großes organisieren, dann helfen alle mit: das Rabbinat, der Kindergarten, die Schule und unser Jugendzentrum.« Und der hohe Aufwand trägt Früchte: In den vergangenen Jahren fanden in Düsseldorf viel häufiger Barmizwa-Feiern und Chuppot statt. Ein gutes Zeichen, findet Lipskaja, denn durch das breite Angebot an jüdischem Leben können hier immer mehr Menschen zur jüdischen Tradition finden.
Einen Weg zur Tradition fand auch Aida Kassimowa. Knapp eine Woche vor Pessach steht sie in einer langen Schlange, um ein Pessachpaket zu bekommen. Die Frau ist weit über 60, und ihre Beine tun ihr vom langen Stehen weh. Aber den Schmerz nimmt sie in Kauf, um auch in diesem Jahr an Pessach alles richtig zu machen, wie sie sagt. Es gibt einen Karton mit Mazzot und einer Flasche Wein – ein Geschenk von Chabad Lubawitsch an die bedürftigen Juden aus der Umgebung. 400 Pessachpakete stehen in Düsseldorf bereit – bei Weitem nicht ausreichend für alle, die sich in der Schlange anstellen.
Knochen Aida Kassimowa und ihre Schwester haben Glück, sie sind noch rechtzeitig gekommen. Ursprünglich stammen die beiden aus Aserbaidschan und sind 1999 nach Deutschland immigriert. Erst hier wurde die Feier des Pessachfestes für sie zur Tradition. »Aus meiner Kindheit kann ich mich noch dunkel an die Seder mit meiner Großmutter erinnern«, erzählt sie, »hier in Deutschland hatten wir wieder die Möglichkeit, es aufleben zu lassen. Jetzt feiern wir jedes Jahr zu Hause. Sogar der Knochen kommt auf den Teller.«
Viel vom Judentum weiß sie nicht. Schließlich hatte jeder in der Sowjetunion Atheist zu sein. Die meisten Zuwanderer besuchen nie die jüdische Gemeinde. Von der Werbung per E-Mail und Facebook kriegen sie nichts mit. Aber Mazze und Wein an Pessach – das ist für sie der Ausdruck ihres Jüdischseins, dafür kommen sie trotz schlechter Gesundheit und des mürrischen Wetters. »Die Mazzot sind für uns wie die Nahrung unseres Glaubens«, erklärt Chabad-Rabbiner Shimon Muraviev, »Pessach ist für uns wie das Frühstück – die wichtigste Mahlzeit. Daraus schöpft die jüdische Seele ihre ganze Kraft für das restliche Jahr.«
Auch Aida Kassimowa hofft, in den kommenden Tagen Kraft zu schöpfen. Für sie ist Pessach aber auch ein Anlass, über den Sinn des Fests nachzudenken: die Freiheit der Juden nach dem Auszug aus Ägypten. Und diese andere Freiheit, die sie als jüdischer Mensch hier in ihrer neuen deutschen Heimat wiedererlangt hat.