Zum vierten oder fünften Mal, so genau wissen sie das gar nicht, sind Bärbel Schröder und ihr Mann Gerhard schon gekommen. Dick eingemummelt gegen die Kälte und den strömenden Regen, stehen sie vor der Kasseler Synagoge, Gläser mit brennenden Kerzen in der Hand, und halten Wache.
Natürlich, erklären sie, könne das nur symbolisch sein, gegen einen Angreifer wären sie so machtlos wie die anderen der etwa 20 Menschen, die wie sie an diesem späten Freitagnachmittag vor dem jüdischen Gebetshaus ausharren. »Aber wer weiß«, sagt Bärbel Schröder, »vielleicht würde so jemand doch ein Stück weit abgeschreckt.«
Nach dem antisemitischen Terroranschlag in Halle an der Saale, wo allein die massive Holztür der Synagoge den Massenmord durch einen schwer bewaffneten Neonazi verhindert hatte, gab es überall in Deutschland Solidaritätskundgebungen, Mahnwachen und Demonstra-tionen. Hunderte bildeten Menschenketten um Synagogen, in München zum Beispiel, in Dresden, Bochum und Berlin. Aufgerufen dazu hatten oft die christlichen Kirchen.
Solidaritätsschreiben Auch in Kassel wollten die evangelische und die katholische Kirche nicht schweigen. Einen Tag nach dem Anschlag überreichten sie der Jüdischen Gemeinde ein gemeinsames Solidaritätsschreiben.
Es endete mit dem Satz: »Wir wissen uns im Gebet und im Handeln mit Ihnen verbunden.« Und gemeinsam gehandelt wurde dann auch tatsächlich: In Absprache und auf Wunsch der Jüdischen Gemeinde beschlossen die Kirchen, fortan für jeden Freitagsgottesdienst in der Synagoge so etwas wie einen menschlichen Schutzschild zu organisieren. Einen Schutz zwar wohl nicht gegen direkte mörderische Gewalt, das wäre eine Überforderung, doch gegen Antisemitismus und Hass.
Für Stadtdekan Michael Glöckner ist die Aktion vor allem ein Signal, an die Jüdische Gemeinde und die Stadtgesellschaft: »Wir lassen die Juden nicht allein.«
»Es kann uns nicht egal sein, wenn solche schrecklichen Dinge wie in Halle passieren«, sagt der evangelische Stadtdekan Michael Glöckner. Für ihn ist die Aktion vor allem ein Signal, an die Jüdische Gemeinde wie an die gesamte Stadtgesellschaft: Wir lassen die Juden nicht allein, wir leiden mit ihnen mit, wir sorgen uns um das Klima in der Gesellschaft. »Es war uns wichtig, ein starkes Zeichen zu setzen«, sagt er. »Auch über längere Zeit hinweg.« Und eben nicht, wie andernorts, nur einmalig.
Zunächst bis zum Jahresende hat für jeden Freitag eine der Kasseler Kirchengemeinden die Verantwortung übernommen; auch die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Kassel oder die Deutsch-Israelische Gesellschaft leisteten schon »Wächterdienste« – so wurde die bundesweit bislang wohl beispiellose Initiative in Anlehnung an Jesaja, Kapitel 62, genannt: »Über deine Mauern, Jeruschalajim, hab ich Wächter bestellt, den ganzen Tag und die ganze Nacht, nimmer schweigen sie.«
Ökumene An diesem regenkalten Freitag, dem neunten seit dem Anschlag von Halle und der Ausrufung der Wächterdienste, sind die Wächter ökumenisch: Eine evangelische Gemeinde im Stadtteil Wehlheiden hat sich den Dienst mit katholischen Seelsorgerinnen und Seelsorgern geteilt.
Manche Helfer halten schon das vierte oder fünfte Mal Wache vor der Synagoge.
In losen Gruppen stehen sie auf dem Bürgersteig vor der Synagoge, etwas verloren in der Dunkelheit, so wirkt es anfangs, und auch ein wenig ratlos. »Und was passiert jetzt?«, fragt jemand. Die Antwort ist: nichts. Jedenfalls nichts im Sinne eines Veranstaltungsprogramms. Auch wenn bei einem früheren Wächterdienst schon mal ein Kirchenchor sang – die Idee ist, einfach nur da zu sein. Präsenz zu zeigen. Und dabei vielleicht ins Gespräch zu kommen.
Mit den Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde beschränkt sich das heute auf ein freundlich zugerufenes »Schabbat Schalom« – zu unwirtlich ist es draußen, die Gottesdienstbesucher haben es sichtbar eilig, nach Hause zu kommen.
Doch zwischen den Wächtern entspinnen sich schnell Unterhaltungen. Über Solidarität, über die Verbundenheit zwischen Christen und Juden, die man ausdrücken wolle. Und darüber, wie unerträglich es doch eigentlich sei, dass solche Aktionen in Deutschland überhaupt nötig sind, fast 75 Jahre nach der Schoa. »Beschämend« sei das, sagt einer.
Angst »Dass man seinen Glauben nicht ohne Angst ausüben kann, geht gar nicht«, meint Regina Gries, eine Klinikseelsorgerin. »Deshalb bin ich heute hier.« Eher politisch argumentiert dagegen eine Frau, die wie die Eheleute Schröder schon zum wiederholten Mal dabei ist und weder zu der evangelischen Stadtteilgemeinde noch zu den katholischen Seelsorgern gehört. »Mir als Staatsbürgerin der Bundesrepublik Deutschland ist es wichtig, jeder Form von Menschenfeindlichkeit, Ausgrenzung und völkischem Denken entgegenzutreten«, sagt Cornelia Seng, die am Revers einen Anstecker »Omas gegen rechts« trägt. »Und Antisemitismus steht da gerade im Vordergrund.«
Auf der Suche nach der Synagoge hat ein Wächter die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich gezogen.
Viele der Wächter haben mit der Jüdischen Gemeinde bislang wenig oder gar nichts zu tun gehabt. Die Synagoge, die vor knapp 20 Jahren auf dem Grundstück des 1938 von den Nazis zerstörten Gebetshauses an der Bremer Straße neu errichtet wurde, steht zwar im Stadtzentrum, doch ein paar Schritte abseits der Hauptstraßen.
»Es ist das erste Mal, dass ich mich bewusst auf den Weg hierhin gemacht habe«, gibt der katholische Geistliche Mario Kawollek zu. »Aber es wird nicht das letzte Mal gewesen sein.« Ein anderer Wächter erzählt, dass er die Synagoge erst gar nicht gefunden habe – und dann so lange davor auf und ab gelaufen sei, dass er die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich gezogen habe.
Polizeistreife Seit jeher steht bei jedem Gottesdienst und jeder anderen Veranstaltung ein Streifenwagen vor der Synagoge, seit Halle wurde das auch auf die Bürozeiten erweitert. Das Verhältnis der Gemeinde zur Polizei ist gut und eng, man fühle sich beschützt, sagt Gemeindevorstandsmitglied Esther Haß. Dennoch hat sie sich für die Wächterdienste starkgemacht.
»Ich empfinde es als wunderschön, dass da jetzt auch Menschen stehen – und nicht nur das Polizeifahrzeug«, sagt sie. »Das ist eine sehr wohltuende Geste.« Um mit den Wächtern zu sprechen, ihnen Essen zu bringen, sich zu bedanken, verlässt sie gelegentlich auch mal den Gottesdienst. »Für mich«, sagt Esther Haß, »ist auch das eine Art von Gottesdienst.«