Stuttgarter Kulturwochen

Schlussakkord in der Synagoge

Wie haben Juden hier früher gelebt, wie leben sie heute in der baden-württembergischen Landeshauptstadt, und wie waren und sind sie in die Bürgergesellschaft integriert? Um Antworten auf diese Fragen zu finden und auch einen Beitrag zur aktuellen politischen Debatte zu leisten, hatten die Jüdischen Kulturwochen Stuttgart vom 6. bis 20. November unter dem Motto »Tendenzen der Ausgrenzung – neue Herausforderungen für die jüdische Kultur in Europa« zu einer Vielzahl kultureller Angebote eingeladen.

Mehr als 5000 Besucher nahmen das Angebot an, schauten Spielfilme wie Lauf, Junge, lauf!, Dokumentationen wie die über Rabbi Wolff – Ein Gentleman vor dem Herrn, befragten die israelische Autorin Dorit Rabinyan zu ihrem Roman Wir sehen uns am Meer, stellten sich auch unbequemen Themen, wie dem problematischen Verhältnis des Reformators Martin Luther zu den Juden, erlebten bei Quartiers- und Stadtführungen, wie Juden in die Gesellschaft integriert waren und später von Nachbarn, Kollegen, Arbeitgebern verraten wurden.

Fazit »Wir haben unser Ziel erreicht, Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen zusammenzubringen«, sagte Barbara Traub. Das sei angesichts Terrorgefahr, Brandstiftung gegen Flüchtlingsunterkünfte und dem Auflodern nationalistischer und völkischer Einstellungsmuster wichtiger denn je, sagte die Vorstandsvorsitzende der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) nach zwei Wochen intensivem Kulturaustausch, dem ein Spagat zwischen ernsten und bedrückenden sowie heiteren Themen gelang.

Zu ersterem gehörte ein Stadtrundgang, der unter anderem auch über den Ostendplatz führte. Vor 76 Jahren nahmen sich hier Selma und Jakob Holzinger das Leben. Ihre Kinder hatten sie ins Ausland geschickt, für ihre Ausreise war kein Geld mehr vorhanden, über ihre Zukunft machten sich Selma und Jakob Holzinger keine Illusionen. Als sozial denkender und handelnder Arzt war Jakob Holzinger beliebt. »Nicht noch einmal Dachau«, wusste er, dahin hatte ihn die Gestapo nach den Synagogenbränden in Stuttgart eine Zeit lang verschleppt. Später beklagte er in persönlichen Gesprächen »die mangelnde Zivilcourage der neudeutschen Akademiker und Wissenschaftler«. Zur Beerdigung des Ehepaares kamen wenige Trauernde. Heute erinnern zwei Stolpersteine vor der Landhausstraße 181 (Ostendplatz) an sie.

Gänsehaut überkam die Zuhörer, wenn Roland Maier und Sigrid Brüggemann bei der Stadtrundfahrt »Spuren jüdischen Lebens in Stuttgart« vom Leben und Sterben der Juden erzählen. 16 Stationen werden mit dem Bus angefahren und zu Fuß erreicht. Was junge Menschen daran interessiert, erklärte eine 37-jährige Teilnehmerin. Als Neu-Stuttgarterin und wegen ihrer Arbeit reize es sie. »Der Alltag interessiert mich, wie und wo sie gelebt haben«, sagt sie, und dass mit der Vernichtung der Juden »so viel Kultur verloren gegangen« sei. Ein anderer Teilnehmer ist 74 Jahre alt. »Ich habe kein Verständnis für den neuen Populismus und die Neonazis«, sagt er. Dass er sich in der Deutsch-Israelischen Gesellschaft engagiere, »verstehen meine Leute nicht«. Er wirkt bedrückt.

Gestapo Bewegung gerät in die ganze Gruppe, als sie vor dem Evangelischen Bildungszentrum Hospitalhof steht. Erst Dominikanerkloster, dann städtisches Hospital, in der Nazizeit Gefängnis der Gestapo, erinnert eine Tafel an Verbrechen an den Juden, die Abschiebung von 300 Ostjuden, die Schikanen gegen Sinti und Roma und politische Häftlinge. »Unwürdig« sei die Stelle gleich neben der Einfahrt zur Tiefgarage, an der die Tafel angebracht wurde. Passanten sähen sie kaum, der Text sei schwer lesbar, so die einhellige Meinung.

1343 wird in Stuttgart der erste Jude erwähnt. Zu diesem Zeitpunkt gab es eine Judengasse und eine Judenschule. Nach der ersten Judenverfolgung lebten in Stuttgart im Jahr 1348 keine Juden mehr. Erst knapp 100 Jahre später werden in der Chronik eine Synagoge und eine Mikwe erwähnt.

Willkommen und Vertreibung wechseln sich in den Jahrhunderten immer wieder ab. Heute zählt die IRGW etwa 3000 Mitglieder. »Juden in Deutschland müssen sich nicht so viele Sorgen machen wie Juden in anderen europäischen Ländern«, hatte zur Eröffnung der Jüdischen Kulturwochen Stuttgart der »Zeit«-Herausgeber Josef Joffe im Rathaus der Stadt gesagt. Doch sei der seit 2000 Jahren religiös und seit dem 18. Jahrhundert rassistisch motivierte Antisemitismus zum Antiisraelismus mutiert. »Antisemitismus ist ein Reflex«, so der Publizist.

Aus Israel ins Stuttgarter Literaturhaus gekommen war Dorit Rabinyan. Zuhörer erlebten eine höchst emotionale Autorin. Dass ihr aktueller Roman Wir sehen uns am Meer, der von der leidenschaftlichen Liebe zwischen einer Israelin und einem Palästinenser in New York erzählt, von der Lektüreliste der Schulen gestrichen wurde, nahmen Zuhörer zum Anlass, ihr Urteil über den Staat Israel als undemokratisch, autoritär, palästinenserfeindlich bestätigt zu finden. Andere waren bewegt, als die Autorin ihren biografischen Bezug zum Roman verriet.

Mensch, Jerusalem nannte der Kameramann der Rundfunkanstalten in Baden-Württemberg, SDR und SWR, Eberhard Tschepe, seine Fotoausstellung, die ins Stuttgarter Rathaus einlud. Fotos von 1963 bis 2015 zeigen eine Stadt, die sich ständig verändert und doch »die Ewige« bleibt.

Kishon Eine literarische Matinee über Stefan Zweig, Satiren von Ephraim Kishon, ein Gespräch mit Eva Umlauf, die als Zweijährige den Holocaust überlebte, ein Symposium über die Wandlung des Begriffes Ghetto, so gestaltete sich der kulturelle Reigen.

Dass Besucher aller Generationen die Einladung der Jüdischen Kulturwochen annahmen und fast 20 Kooperationspartner gewonnen werden konnten, dafür dankte Barbara Traub am letzten Tag den Kuratoren, dem früheren Landesrabbiner Joel Berger und seiner Frau Noemi. Sie waren für die Fülle und Verschiedenheit der Veranstaltungen verantwortlich, die mit einem Konzert des Shir Chazanut Ensembles und Avraham Kirshenbaum aus Jerusalem in der Synagoge endeten.

»Frieden ist möglich«, zog Ensembleleiter Kantor Yoéd Sorek Bilanz. »Ich als Israeli leite einen deutschen Chor, der in dieser Stuttgarter Synagoge Synagogenmusik singt, das finde ich wunderbar«, sagte Sorek. »Wunderbar« fand auch eine Zuhörerin das Konzert. »Ich war noch nie in einer Synagoge, die Musik hat mir sehr gefallen«, bekannte die 70-Jährige.

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