Anmerkung der Redaktion (2. August 2023):
Als dieser Text von Fabian Wolff in der Jüdischen Allgemeinen erschien, glaubte die Redaktion Wolffs Auskunft, er sei Jude. Inzwischen hat sich Wolffs Behauptung als unwahr herausgestellt.
»LSD? Keine Ahnung, wo das ist. Hört sich aber gut an.« Der freundliche Mitarbeiter des Kulturhauses in Berlin-Mitte kann leider auch nicht helfen. Irgendwo in diesem Gebäude sollen sich junge Juden treffen – nicht, um sich gemeinsam auf einen Trip zu begeben, sondern um die Braut Schabbat zu begrüßen – »LSD« steht schließlich für »Let’s Start Davening«.
Die Assoziation mit dem Rauschmittel der 70er-Jahre ist natürlich trotzdem etwas gewollt: Auf dem Boden liegen farbige Decken, Wein steht bereit, ein junger Mann spielt sich auf seinem Harmonium ein, Bongos stehen im Raum, das Licht ist schummrig – trotz der vielen Kerzen. Der junge Mann mit dem Harmonium ist Ariel Pollak. Er studiert am Abraham Geiger Kolleg und hat zusammen mit Rotem Malach von der World Zionist Organization vor knapp einem Jahr »LSD« gestartet. »LSD« soll ein alternativer Raum sein, um gemeinsam den Schabbat und die hohen Feiertage zu begehen.
Hebräisch Was das heißt, wird schnell klar. Inzwischen ist der Raum gut gefüllt, mit mindestens 40 Leuten. Sie sitzen eng zusammen in einem Kreis oder an den Rändern. »Everybody was so pünktlich, we must have many Germans here today!«, sagt Ariel. Dann fängt die Musik an – Ariel am Harmonium, andere mit Cello, Klarinette und Gitarre. Die Akustik ist gut, die Musik hat eine große Nähe, egal wo man sitzt. Mit den ersten Tönen verfallen einige in leichte Trance, es wird geklatscht oder gestampft. Vorher wurden noch Liedtexte auf Hebräisch und transkribiert verteilt, aber die meisten können anscheinend sowieso mitsingen.
Unter den Gästen ist die Berliner Kantorin Jalda Rebling, die sich gerade noch ein Tuch umgewickelt hat. »Mich erinnert das hier an die tiefsten 60er-Jahre«, sagt sie und erklärt dann dem Publikum, warum man den Kiddusch-Becher mit der Handfläche hält.
Hippie Das Wortspiel »LSD« stammt von Zalman Schachter-Shalomi, als »Reb Zalman« bekannt. Gemeinsam mit Shlomo Carlebach, »Reb Shlomo«, steht er für eine Verbindung jüdischer Lehre mit Hippie-Freigeistigkeit. Beide, Reb Shlomo und Reb Zalman, waren Anhänger von Chabad-Lubawitsch, die in den 60er-Jahren mit der Gegenkultur in Berührung kamen, von der Welle mitgespült wurden, ohne von ihr umgeworfen zu werden.
Reb Zalman verließ Chabad nach einem LSD-Experiment, Reb Shlomo ging in die Folk-Szene nach New York. Angeblich haben Bob Dylan und Pete Seeger ihn ermuntert, seine Lieder – Tanach-Verse und Gebetstexte, unterlegt von eigenen Kompositionen – in einem Tonstudio aufzunehmen. Den Rest der 60er-Jahre verbrachte er damit, in San Francisco »verlorene jüdische Seelen« – Drifter, Druggies und Drop-Outs – aufzufangen und ihnen einen Weg zurück zu ihrem Erbe zu zeigen. Einen solchen Anspruch hat die »LSD«-Initiative von Ariel und Rotem nicht, aber sie ist aus einer ähnlichen spirituellen Notlage heraus geboren. Als Ariel vor fast zwei Jahren nach Berlin kam, hatte er eine »spirituelle Krise«, wie er sagt.
In den Synagogen fühlte er sich fremd. Spirituelle Erfüllung fand er eher auf Techno-Partys. Oder bei Hare Krishna und Chabad, auch wenn er nicht mit deren Weltanschauung übereinstimmt. »Das hört sich jetzt radikal an, aber so geht es vielen jungen Juden heute«.
Kreis Schnell fand er Freunde, denen es ähnlich ging. »Ich habe gesagt: Wir laden nur gute Bekannte ein, bringt eure Instrumente mit, vegetarisches Essen und viel Wein.«
Für Ariel ist das eine Rückkehr zu wahrer Spiritualität – miteinander verbunden sein und gemeinsam mit Gott in Kontakt stehen. »Wir sitzen auf dem Fußboden, in einem Kreis. Wie bei der Entstehung der Psalmen, als man um ein Lagerfeuer herumsaß und gesungen hat.«
Inzwischen wird die Initiative von der World Zionist Organization und Beth Hillel gefördert. Aus den 25 Teilnehmern ganz am Anfang sind jetzt 50 bis 70 geworden, obwohl es keine Werbung gibt, nur Mundpropaganda und Facebook-Einladungen. An Tu Bischwat waren es sogar 90 Leute.
Die meisten von ihnen, sagt Ko-Organisator Rotem, haben Schwierigkeiten, sich mit einer der Synagogen in Berlin zu identifizieren und suchen ein offenes, pluralistisches Judentum. »LSD« bietet diese Offenheit, erklärt Ariel: »Es geht um Dvekut, Nähe zu Gott. Das haben wir von der chassidischen Lehre übernommen. Andererseits sind wir komplett egalitär und inklusiv, das kommt natürlich aus dem Re- formjudentum. Wir brauchen aber keine Labels.« Diese Offenheit ist den Teilnehmern und den Organisatoren wichtig.
»Wir sind keine LGBT-Gemeinde, aber ›LSD‹ ist schon ziemlich ›queer‹. Das hat mit unseren eigenen Leben zu tun, und dass wir so inklusiv sind.« Die Initiative hat sich auch am ersten Pride-Schabbat vor einem Jahr beteiligt.
Carlebach Nach dem Kiddusch geht die Musik weiter: Carlebach-Kompositionen, israelischer Pop, chassidische Nigunim. Mal springen Leute auf, um zu tanzen, mal wippen sie wie in Trance. Zwischendurch erklärt Ariel den Teilnehmern, was er eigentlich möchte: ein Judentum, dessen Grundsatz nicht ist, »gemeinsam zu überleben«, sondern »gemeinsam glücklich zu sein«. Zwischendurch plappert aufgeregt ein kleines Kind, was Ariel ganz besonders freut.
»Von einem Kind kann man gut lernen, wie man betet – was es auch sagen will, es ist immer so laut, dass Gott auf jeden Fall zuhört.« Schabbatkerzen werden nicht speziell gezündet; wer die Amida sprechen will, kann das tun – die anderen hält Ariel dazu an, einfach kurz zu meditieren. Dann gibt es Essen. Windbeutel, Reis, Nudelsalat, Schlischkes – jeder hat etwas mitgebracht.
Wen man auch fragt, ob jung oder alt, welches Geschlecht und woher auch immer – fast alle sagen, dass sie hier sind, weil sie sich in den Synagogen nicht richtig wohlfühlen.
»Gerade haben bei einer Umfrage unter amerikanischen Juden 93 Prozent angegeben, dass sie gerne jüdisch sind. Die Krise des Judentums ist also eine Krise der Institutionen. ›LSD‹ ist ein alternativer Weg«, sagt Jalda Rebling. Wie vor einem halben Jahrhundert Reb Zalman und Reb Shlomo erreicht »LSD« heute junge Menschen, die niemals eine Synagoge betreten würden. Rebling hat Ariel eingeladen, bei Limmud ein Davening zu leiten.
Rotem möchte die Initiative ausbauen – noch mehr Freitagstreffen und andere Veranstaltungen, um das jüdische Leben in Berlin zu bereichern. Demokratisch, offen und zurück zu den wahren Wurzeln. Alt und neu zugleich, so fasst Jalda Rebling »LSD« zusammen. Eben das, was junge Leute anzieht.