Es sind kleine, unscheinbare Gesten, mit denen Tatjana Kalenderian ihre Anweisungen erteilt. Die Hand der Chorleiterin streicht durch die Luft. Einen Augenblick nur, dann berühren die Finger auch schon die Tastatur ihrer elektrischen Orgel. Die ersten Akkorde ertönen. »Die Melodie eines russischen Schlagers«, erklärt Kalenderian. Sekunden später setzt der Chor ein. Eine gut aufeinander abgestimmte Mischung aus Bass-, Alt- und dem ein oder anderen Sopranton füllt den Innenraum der Bad Nauheimer Synagoge. Schwer klingen die Worte, und weich zugleich, angepasst an den Rhythmus der Musik. »Den Text haben wir selbst geschrieben«, sagt die Chorleiterin, ehe sie mit einem kurzen Wink die Probe unterbricht.
Kulturcodes Ein Mann und eine Frau treten vor das Lesepult. Tief und pathetisch klingt seine Stimme, bis sie ihn unterbricht. Ein gesungener Dialog – auf Russisch. Dem Nichteingeweihten bleibt der Sinn dieses Schauspiels zunächst verborgen. Noch ist es nur eine Übung. Am 28. Februar aber wird daraus Ernst. Und diejenigen, die an diesem Tag die Bänke in der Synagoge füllen werden, dürften keine Probleme haben, zu verstehen, was dort im Angesicht des Tora-Schreins vor sich geht. Der kulturelle Code, den sie aus ihren Ursprungsländern in der ehemaligen Sowjetunion mitgebracht haben, macht es ihnen möglich. Russische Melodien, die jeder von ihnen kennt, russische Texte, die sie verstehen und eine der zentralen Erzählungen des Judentums. Die Geschichte von Esther und der Errettung des jüdischen Volkes vor dem Genozid im babylonischen Exil.
»Die brauchen aber nicht glauben, dass ich sie alles auf Russisch singen lasse«, sagt Monik Mlynarik mit einem Augenzwinkern, »schließlich sind wir noch eine deutsche Gemeinde.« Nominell mag das stimmen. Tatsächlich aber ist die kleine Gemeinschaft im Wandel begriffen – nicht das erste Mal in ihrer über 500-jährigen Geschichte. Zu Hochzeiten, vor der Schoa, zählte die Gemeinde rund 800 Mitglieder. Heute sind es 325, wovon 290 aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion stammen. Ein Großteil von ihnen wird an Purim in der Synagoge zusammenkommen.
»Wir haben schon jetzt zehn Leute auf der Warteliste.« Monik Mlynarik schüttelt etwas ungläubig den Kopf. Gefeiert wird ein Stockwerk tiefer, im Gemeindesaal, der direkt unter der Synagoge liegt. An Purim werden sich hier mindestens 80 Menschen drängen. Mlynarik, der seit 64 Jahren in Bad Nauheim lebt, erinnert sich noch an Zeiten, als die Gemeinde kaum 70 Mitglieder zählte – kein Vierteljahrhundert ist das her. »Manchmal hatten wir Schwierigkeiten den Minjan zusammenzubekommen.«
Ein einziges Mal nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte in der Gemeinde dichtes Gedränge. Im April 1945 platzte die 16 Jahre zuvor im Bauhausstil errichtete Synagoge förmlich aus allen Nähten, als einige hundert Gläubige am ersten jüdischen Gottesdienst auf deutschem Boden nach Ende des nationalsozialistischen Terrorregimes teilnehmen wollten. »Die meisten waren amerikanische Soldaten«, berichtet Mlynarik, »viele davon waren Jahre zuvor aus Deutschland emigriert.«
Seit Anfang der 90er-Jahre verläuft die Emigration wieder nach Deutschland. Für die Bad Nauheimer Gemeinde ein Glücksfall, glaubt Vorstandsmitglied Manfred de Vries. Das sei gleichzeitig aber auch eine riesige Herausforderung: »Zu den 290 neuen Gemeindemitgliedern kommen diejenigen Verwandten, die nicht der Gemeinde angehören. Faktisch haben wir die Aufgabe, mehr als 1.000 Menschen zu integrieren.« Nicht zuletzt deshalb hält man in Bad Nauheim die Fahne der Orthodoxie hoch. »Nur wenn wir die Menschen von der Religion zu überzeugen verstehen«, glaubt de Vries, »haben wir eine Chance die Gemeinde zu erhalten.«
Sinnfrage Dafür, dass das Kulturelle nicht zu kurz kommt, sorgt Mihail Finkelstein, ebenfalls Mitglied im Gemeindevorstand. Ihn verschlug es 1996 in die Wetterau, wo der ehemalige Lehrer relativ zügig Anschluss an die jüdische Gemeinschaft fand. »Aber irgendwann«, erinnert er sich, »haben wir uns gefragt: Was macht eigentlich eine Gemeinde aus? Nur die Synagoge? Der Gottesdienst? Die Feiertage?« Fragen, die letztlich dazu führten, dass die Gemeinde beschloss, ihr kulturelles Angebot auszuweiten und auf die russischsprachigen Zuwanderer abzustimmen. »Viele sprachen nicht einmal mehr Jiddisch, geschweige denn Hebräisch.«
Seit zehn Jahren ist auch der Chor fester Bestandteil des Gemeindelebens in Bad Nauheim. Inzwischen haben sich die Sängerinnen und Sänger aus der Kurstadt einen gewissen Bekanntheitsgrad erarbeitet und werden regelmäßig für auswärtige Veranstaltungen gebucht.
An Purim aber, verspricht Leiterin Tatjana Kalenderian, die früher an der Musikhochschule von Odessa unterrichtete, steht der Chor ganz im Dienst der jüdischen Gemeinde. »Wir werden versuchen, die Geschichte ein bisschen moderner zu erzählen.« Eine jüdische Geschichte – mit russischen Melodien.