Für Zoya Ures sollte es in ihrem Leben am liebsten rote Rosen regnen. Und überall sollten Blumen blühen, bunt und schön. Aber das Leben ist bekanntlich kein Blütenmeer, in dem der graue Alltag gnädig versinkt. Darum verwirklicht die blonde Endsechzigerin ihre floralen Träume einfach selbst – mit Wolle, Filz, Seide, Nadel und Faden und vor allem mit sehr viel Kreativität. Sie sprüht so voller Ideen, dass sie mit ihrer Leidenschaft für Handarbeit weitere Frauen aus der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) anstecken konnte.
Talent Seit sie vor zwei Jahren im Seniorenklub dafür warb, die eigenen Talente im Alter neu zu entdecken, findet sich jeden Mittwoch der Arbeitskreis »Geschickte Hände« in der Gemeinde zusammen. Was hier entsteht, haben die Damen gerade im Seniorenklub der Gemeinde bei einer Modenschau vorgeführt. Und dafür viel Applaus erhalten. »Entzückend«, lobt Susanne Jakubowski vom IRGW-Vorstand begeistert die »eigenen Werke« der Damen.
»Wer ein Hobby hat, macht aus Freizeit Freuzeit« lautet ein Zitat des englischen Gelehrten Samuel Johnson.
Das Stübchen, in dem sie einmal in der Woche wirken, ist winzig. Aber die Frauen mit den geschickten Händen, die den Raum obendrein einige Zeit auch noch mit dem Rabbiner teilen mussten, sind selig. »Jetzt ist das Zimmerchen renoviert und mit Regalen ausgestattet worden, damit wir alles unterbringen«, zeigt Zoya Ures stolz auf die Einrichtung. Und vergisst nicht, dankbar zu erwähnen: »Die Gemeinde hat uns unterstützt.«
Stoffe Entstanden ist ein richtiges Atelier: In Fächern, Kisten und Kästen sind Stoffe, Zubehör, Nähutensilien und Schätze wie glitzernde Strassknöpfe, Glasperlen oder rote Plastikkirschen gehortet. Jeder Zentimeter Platz ist ausgenutzt und reicht immerhin für vier Tische, vier Nähmaschinen, ein Bügelbrett und natürlich einen großen Spiegel.
Verwandlung Und dann sind da auch noch die Wände und ein Fensterbrett, um die schönsten Stücke zu präsentieren und wie in einer Galerie Geschick und Kunstfertigkeit der Frauen auf den ersten Blick unter Beweis zu stellen. Elegante, eng anliegende Hüte im Stil der 20er-Jahre, kess aufgeputzt mit Blütenapplikationen, fesche Mützen und wohlig warme Stirnbänder, einfallsreich auf bunten Luftballons drapiert, Pantoffeln aus Filz, Kinderkleidchen, ebenso niedlich wie originell durch den Materialmix aus Stoffen mit verschiedenen Mustern, ein blumiger Wandbehang und sommerliche Taschen, denen man erst auf den zweiten Blick ihren ursprünglichen Verwendungszweck als geflochtene runde Tischsets ansieht. Jedes Stück ein Beleg für die Kunst der Verwandlung.
Nichts garantiert so viel Bewunderung wie der Hinweis »selbstgemacht«.
Frauen und Handarbeit: Das klingt ein bisschen nostalgisch, liegt derzeit aber wieder voll im Trend. Nichts garantiert so viel Bewunderung wie der Hinweis »selbstgemacht«. Wie der Pullover, den Lilia Gingaerskaja trägt: Eine dekorative Stickerei mit Ornamenten und Röschen macht ihn zum Hingucker. »Ich habe dem alten Pullover ein zweites Leben gegeben«, verrät Lilia stolz.
Verjüngt und geliftet mit Hilfe und unter Anleitung von Zoya Ures, deren über und über mit Blüten bestickter schwarzer Pullover die beeindruckte Uni-Trägerin regelrecht neidisch macht. Denn kaufen kann man ein solches Unikat nicht, das jedem Designerstück aus der teuersten Modeboutique den Rang abläuft.
Kunstlehrerin »Das stammt noch aus meiner Studentenzeit«, verblüfft die zierliche 67-Jährige, die sich nie von diesem Kunstwerk trennen mochte. Seit damals, als sie in Moskau Wirtschaft studierte, dann aber ihrer Passion folgte und als Kunstlehrerin an einer jüdischen Schule in Moskau unterrichtete.
Maya Rayzner war Ingenieurin und arbeitete in einer großen Schiffswerft am Schwarzen Meer.
2002 zog sie nach Deutschland, zuerst nach Heidenheim und 2006 nach Stuttgart, wo sie in der Gemeinde den Festen und Auftritten der Kinder aus dem Kindergarten mit ihren Dekorationen und Kostümen eine besondere Note gibt. Dafür hat sie ein Händchen. Und obendrein ein besonderes Gespür für günstige Einkaufsadressen. Denn ein Vermögen dürfen die Stoffe und all die anderen schönen Dinge nicht kosten.
»Wer ein Hobby hat, macht aus Freizeit Freuzeit« lautet ein Zitat des englischen Gelehrten Samuel Johnson (1709–1784), das als Leitspruch an die Wand des Ateliers gepinnt ist. Und das wohl genau den Spaß und die Freude der Frauen mit den geschickten Händen ausdrückt. »Dieser Arbeitskreis macht unser Leben reicher«, bestätigt auch Maya Rayzner, die hier ebenfalls mitwirkt.
Sie genieße die kleine Auszeit vom Alltag, es werde viel gelacht, geplaudert, gesungen, aber auch ganz konzentriert gearbeitet. Denn sie alle – das sind an diesem Nachmittag auch noch Elena Magendovid, Luba Engelhardt und Alla Schmidova – seien zwar Rentnerinnen, aber noch fit: »Und darum wollen wir auch etwas machen und nochmal etwas Neues lernen.«
Maya Rayzner war Ingenieurin und arbeitete in einer großen Schiffswerft am Schwarzen Meer. Ihre Gabe, wieder etwas Neues zu lernen, hat die heute 64-Jährige in Deutschland unter Beweis gestellt und sich in vielen Berufen, zum Beispiel als Buchhalterin, bewährt. »Aber jetzt hat meine Tochter drei Kinder, da muss ich für die Enkel da sein.«
In der guten alten Zeit waren die Großmütter für die handgestrickten Socken zuständig und unverzichtbar. Weil sie das komplizierte Nadelwerk beim Stricken der Fersen perfekt beherrschen. Wie Luba Engelhardt, die gerade aus zwei Wollsträngen, grau und rosa, Füßlinge strickt: Hausschuhe für die Enkelin. Kunststück, dass sie es kann: Die 61-Jährige, die ihren schwarzen Pullover mit einer Lurexpasse um die Taille verlängert und aufgehübscht hat, ist ebenfalls gelernte Technikerin.
In der guten alten Zeit waren die Großmütter für die handgestrickten Socken zuständig und unverzichtbar.
Abendrobe Nun hat sie sich eine größere und aufwendigere Arbeit vorgenommen. »Einen Abendanzug aus Lurex«, verrät sie lächelnd. Respekt! Etwa für den nächsten Makkabi-Ball? »Nein, nein«, winkt sie ab: »Für den Auftritt im Chor.«
Denn Maya, Luba und Lilia singen auch noch im russischen Chor, den Viktor Vanjukevitch leitet und dessen Repertoire aus Liedern auf Russisch, Ukrainisch, Georgisch und Hebräisch besteht. Und, nicht zu vergessen, auf Deutsch. Denn der Chorleiter habe einen Stuttgart-Walzer komponiert und geschrieben. Den würde man doch gern hören. Bitte sehr: Dann gibt es für die Besucherin spontan ein kleines Konzert.
»Unsere Damen sind sehr talentiert«, klärt dazu Svetlana Moroz von der Gemeindeverwaltung auf. »Nicht nur beim Stricken, Sticken, Häkeln und Schneidern, sie singen und malen auch«, verrät die Sankt Petersburgerin, die seit 27 Jahren in Stuttgart lebt und hier heimisch geworden ist. Maya und Elena nicken und wecken die Neugier auf eine Ausstellung.
Kreativität Jetzt aber beherrscht das bevorstehende Purimfest Kreativität und Arbeitseifer einiger Damen. Wenn am 21. März (14. Adar) die Rettung des jüdischen Volkes vor dem drohenden Tod im Perserreich und die mutige Königin Esther gefeiert werden und sich die Freude am wiedergewonnenen Leben in Verkleidung und Maskerade ausdrückt, wollen die Frauen mit ihren Kreationen nicht hintanstehen.
Elena Magendovid wird sich in eine feurige Spanierin verwandeln und näht bereits am Flamenco-Kostüm mit vielen Rüschen und Volants. Fehlen nur noch Fächer und Kastagnetten für den stilechten Auftritt im Seniorenklub. Das modische Highlight aber wird Lilia liefern, wie das halb fertige Kostüm schon ahnen lässt: irgendetwas in Schwarz und Glitzer mit einem Minirock.
»Kann ich doch tragen, oder?«, fragt die schlanke Blondine in schwarzen Pailletten-Leggings. Aber sicher, kommt im Chor Zustimmung – mit der einhelligen Meinung, dass 80 Lebensjahre kein Grund sind, an Purim nicht mehr Mini zu tragen. Und Zoya Ures wird noch ein paar Rosen darüber streuen. »Wir sind ein gutes Team«, versichert Maya. Das glaubt man aufs Wort.
Jeden Mittwoch 14 bis 16 Uhr