Mein Tag beginnt gegen 6 Uhr. Nach der Morgengymnastik frühstücke ich und füttere meine Papageien. Der eine von ihnen heißt Zippor. Weil ihm allein langweilig wurde, habe ich ihm ein Weibchen gekauft in der Hoffnung, dass sein Leben schöner wird. Meine Vögel können »Arja« für Darja sagen sowie »Abat Alom« für »Schabbat Schalom«. Ich muss ihnen noch beibringen, es nur freitags zu sagen und nicht jeden Morgen.
Nach dem Frühstück mache ich mich auf den Weg, im Sommer oft mit dem Fahrrad. Ich wohne im Süden Hannovers, meine Arbeitsstelle liegt im Norden der Stadt. Jeden Tag freue ich mich von Neuem auf meine Arbeit. Dort erwarten mich 40 Kinder. Die Kita, die ich seit drei Jahren leite, gehört zur Liberalen Jüdischen Gemeinde. Rund die Hälfte unserer Kinder kommt aus russischsprachigen Familien, zwei der fünf Erzieher sind in der ehemaligen Sowjetunion geboren, und alle in unserem Team sind Juden. Zwei Kinder kommen aus einer evangelischen Familie, die sich bewusst für unsere Einrichtung entschieden hat.
Struktur Das Jüdische spielt im Leben der Kita eine zentrale Rolle, nicht nur im Morgenkreis oder freitags beim Challot-Backen. Auch wenn wir spazieren gehen, sprechen wir mit den Kindern zum Beispiel über die Vielfalt der Schöpfung. Die Kleinen haben selbst eine Torarolle geschrieben und lesen jede Woche daraus. Eines der Kinder hat einen Opa in Israel, der uns zu den Festen immer ein Paket schickt.
Aber nicht nur das jüdische Jahr ordnet unser Leben, sondern auch der Wochenplan: Montag gibt es Musik, Dienstag Sport, mittwochs ist Kunst dran, am Donnerstag machen wir Ausflüge. Ich finde den Rhythmus sehr wichtig für die Kinder. Er lehrt sie, Ordnung zu schaffen, und die äußere Ordnung wirkt sich aufs Innere aus. Auch mir hilft das strukturierte Leben der Kita. Er gibt mir einen Rahmen, in dem ich die Kinder beobachten und individuell fördern kann.
An meiner Berufswahl hatte bestimmt auch meine Mutter Anteil. Sie arbeitete als Kinderpsychologin in einer Poliklinik in Ostberlin. Als ich in der 10. Klasse war und gerade einen Erzieher-Studienplatz in Aussicht hatte, kam die Wende. Vier Jahre später machte ich mein praktisches Jahr an einer Kita in Kreuzberg. Dorthin kamen viele Kinder aus muslimischen Familien. Als eine palästinensische Mutter meinen Davidstern sah, zeigte sie auf ihren Sohn und rief: »Unser Ramin wird eines Tages Palästina befreien!« Aber als sie mitbekam, dass ich in den Ferien nach Israel fahre, schloss sie Frieden mit mir und bat mich, ihr etwas Erde aus Jaffo mitzubringen. Das tat ich.
Identität Die Wende bedeutete für mich die Chance, das Jüdische für mich zu entdecken. Als ich zehn Jahre alt war, hatte meine Mutter mir und meinem Bruder Daniel das Geheimnis eröffnet, dass wir jüdische Vorfahren haben und dass ihre Eltern deswegen 1938 nach Dänemark gegangen seien. Das war’s, mehr erfuhren wir nicht über unser Judentum. Aber das Thema schlummerte irgendwie in mir. Und als wir 1989 nach Westberlin gehen konnten, kaufte ich mir Hebräisch-Lehrbücher und brachte mir die Sprache zu einem gewissen Teil selbst bei.
Irgendwann fing ich an, mit meiner Mutter alle Synagogen durchzuprobieren. Sie mochte die Pestalozzistraße, mein neues Zuhause lag in der Oranienburger Straße. Zum dortigen egalitären Minjan ging ich dann bald regelmäßig. Später schlug ich vor, alle zwei Wochen am Schabbat die Kinder zu betreuen. Ich sang mit ihnen und sprach über den Wochenabschnitt.
Bei einem Machane lernte ich die Vorsitzende der Liberalen Gemeinde Hannover kennen. Sie bat mich, alle zwei Wochen nach Hannover zu kommen und am Schabbat Kindergottesdienst zu halten. So kam eins zum anderen, bis ich schließlich nach Hannover zog, wo ein paar Jahre später unsere Kita entstand.
Aufgezeichnet von Irina Leytus