Nächster Halt Dresden Hauptbahnhof.» Erschöpft fahre ich hoch – seit der Abfahrt von Köln über den riesigen nördlichen Umweg Hannover – Magdeburg – Leipzig sind siebeneinhalb Stunden vergangen. Auf dem Weg zu meinem Domizil. Prager Straße, Fußgängerzone, Schuhhaus Salamander, Hertie, McDonald’s, Hotelkomplexe.
Hier stand Dresdens Altstadt, ehe sie, eine einzige Flamme, in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 unterging. Kein Ereignis des Bombenkrieges hat sich tiefer in das öffentliche Bewusstsein gegraben als dieses. Und das, obwohl andere Städte, wie Würzburg und Pforzheim, ebenso fürchterlich heimgesucht worden sind, auf Köln siebenmal so viele Bomben abgeworfen wurden, und die Totenziffern der Hamburger Phosphornacht vom 27. auf den 28. Juli 1943 die der Dresdner noch übertrafen.
synagoge Ich bin nicht das erste Mal hier, sondern hatte in der bis auf den letzten Platz besetzten Dreikönigskirche eine Rede zur Reichspogromnacht vom November 1938 gehalten. Sechs Jahre, drei Monate und vier Tage, bevor die Altstadt ausbrannte, war die Dresdner Synagoge in Schutt und Asche gefallen. Das Auditorium verharrte in gelähmtem Entsetzen, während ich vergebens versuchte, meiner inneren Bewegung Herr zu werden.
Ich bin dann noch einmal losgezogen, durch das nächtliche Dresden, auf der Suche nach Trost. Der Fürstenzug an der Wand des Stallhofs, mit Horn und Tuba Aufmarsch aller 35 Wettiner Könige, Kurfürsten und Markgrafen. Der restaurierte Zwinger, wo gerade eine Krähe so hingegeben aus einer Pfütze trinkt, dass sie mich erst im letzten Moment gewahrt und auffliegt. Die hell erleuchtete Front der Semperoper, wo jeder Schritt auf dem steinernen Vorplatz hörbar ist. Die Ruine der Frauenkirche (damals noch), schwach beschienen von Hilton Dresdens Fassade. Vom Altmarkt und Postplatz über den Wettiner Platz; die Freiberger und Budapester Straße hinunter, bis zum Hauptbahnhof. Über die Augustbrücke in die Neustadt, vorbei an der vergoldeten Reiterstatue Augusts des Starken zum Palaisplatz. Auf dem Rückweg dann an den Piers die alten Elbdampfer.
vakuum Diesmal bin ich uneingeladen nach Dresden gekommen, aus eigenem Antrieb, an dem geschichteschweren Datum selbst – um ein Loch zu schließen, ein Vakuum zu füllen, eine Antwort zu finden. Es ist der 13. Februar 1997.
Wenn es ein Datum gibt, an dem sich ablesen ließe, dass ein entmenschlichtes Regime nicht nur seine Anhänger, sondern auch seine Gegner dehumanisiert, dann ist es für mich der 15. November 1943. An jenem Tag hatte Radio London in deutscher Sprache verkündet, die Royal Air Force werde die Reichshauptstadt bis Ende Dezember des Jahres Nacht für Nacht in ununterbrochener Folge aus der Luft angreifen.
Ich hörte die Nachricht gegen 22 Uhr, in einem kleinen Dorf in der Altmark, wo wir nach unserer Ausbombung in Hamburg vom 29. auf den 30. Juli 1943 untergekommen waren. Bald darauf setzte auch schon das Dröhnen über uns ein – eine der Angriffsrouten führte über diesen Teil Deutschlands. Es klang wie die Schläge einer ungeheuren Glocke, ein stählernes Schnauben, brüllende Kriegsmotoren, endlose Geschwader, ostwärts brausend – noch 20 Minuten bis Berlin.
«Operation Gomorrha» Und dann, mir sträubt sich die Feder, geschah es. Obwohl ich den Luftkrieg und seine Schrecken durch die «Operation Gomorrha» doch gerade am eigenen Leibe gespürt hatte; obwohl ich genau wusste, was Minen, Stabbrandbomben und Phosphor anrichten, und dass in weniger als einer halben Stunde die todbringende Last über Berlin ausgeklinkt werden würde – ich rannte nach draußen, jubelte in der Dunkelheit auf der leeren Dorfstraße, jauchzte und schickte meine glühenden Grüße und Wünsche hoch in den lärmzerfetzten Himmel. Ohne Gedanken an die Männer, Frauen und Kinder, die verstümmelt, verschüttet, verbrennen würden und deren letzte Lebensnacht angebrochen war.
Wir hatten uns damals angewöhnt, von der «zweiten Gefahr» zu sprechen, dem Tod aus der Luft, also der tragischen Möglichkeit, von unseren Befreiern getötet zu werden, unterschieden die Bomben doch nicht zwischen Verfolgern und Verfolgten (die «erste Gefahr», der Nazistaat, hatte sich uns schon lange vorher in dem Wort «Gestapo» synonymisiert).
«fliegende festung» Aber Befreier blieben sie trotzdem für uns, die angloamerikanischen Bomberbesatzungen, die Piloten, Kopiloten und Bordschützen. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, was ich dachte und wünschte, wo und wann immer ich die Kondensstreifen der Geschwader am Himmel über Deutschland sah oder eine «Fliegende Festung» in den Scheinwerferkegeln der Flakbatterien: «Kommt herunter, bitte kommt herunter und nehmt uns mit, weg von der Angst, der ewigen Angst, der schlaflosen Angst ...»
In den zehn Jahren seit 1933 hatte sie in mir alles aufgefressen, was geblieben war an Mitgefühl für eine Mehrheit, die hinter der Regierung stand. Es war der große Irrtum des britischen Bomber Command in High Wycombe, zu glauben, die damaligen Deutschen zu einem Aufstand gegen Hitler bomben zu können – er hat mit ihnen machen können, was er wollte. Die Strategie der großflächigen Zerstörung von Wohngebieten als Hauptziel des Luftkrieges konnte nicht aufgehen. Ein Irrtum, der an die halbe Million Deutsche und 160.000 Männer der britischen und amerikanischen Luftwaffe das Leben kostete. An jenem 15. November 1943 dauerte der Überflug zwei Stunden. Die angekündigte Dauerbombardierung Berlins bis Jahresende wurde durchgehalten, wie meine nächtliche Solidarisierung mit den Geschwadern und meine Distanz zu den Opfern.
eierwerfer Dabei hat mir niemand so geholfen, an der Teilung der Humanitas festzuhalten, wie die Spezies der Eierwerfer. Als Königin Elisabeth II. Dresden 1995 einen Besuch abstattete, hätte die Queen, wäre es ihr in das Blickfeld geraten, ein Transparent mit der Aufschrift «Royal Airforce – Kriegsverbrecher» sehen können. Als der rüstige Siebzigjährige daraufhin gefragt wurde, ob für ihn die deutschen Bomberbesatzungen, die 1939 Warschau, 1940 Rotterdam und London, 1941 Coventry und Belgrad verheert hätten, auch Kriegsverbrecher gewesen seien, holte er als Antwort ein Ei aus der Tasche und warf es in Richtung der Königin, allerdings ohne sie zu treffen.
Nach meinen lebenslangen Erfahrungen geht die «Internationale der Eierwerfer» stets nach dem gleichen Muster vor: Sie blendet die Vorgeschichte aus, meidet den historischen Kontext und kappt alle Kausalitäten. Keine andere Gruppe hat es mir so leicht gemacht, die Toten des Luftkrieges zu ignorieren und mich hinter meinem Empathiedefizit zu verstecken. Wobei Dresden immer das Paradebeispiel der professionellen Aufrechner und Exkulpierer war. Ich habe ihnen nie ein Wort ihrer Trauer geglaubt, keine Silbe. Die unermessliche Tragödie der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 war und ist für die «Eierwerfer» nie etwas anderes gewesen als ein Posten auf der schaurigen Liste ihrer entseelten Totenarithmetik. (...)
Darüber schiebt sich mir wie von selbst ein anderes Bild, eine Folie von erschreckender Parallelität: Leichenverbrennungen auf Riesenrosten, Tausende von Knochengerüsten auf einen Blick, entblößte Gerippe, vermodert, tief aus der Erde geholt von KZ-Häftlingen, die bald selbst zu den Toten zählen werden: die Ausgrabung des Holocaust, die große Exhumierung der «Endlösung» an den Stätten der Vernichtung im Osten, Heinrich Himmlers Versuch, die Spuren des Zivilisationsbruchs Auschwitz zu löschen, als im Osten die Front immer näher und näher rückte ... Hält man beides übereinander, decken sie sich fast, mischen sich die Konturen der Verbrannten und Ausgegrabenen miteinander, würde man ohne Erklärung nicht wissen, wer die einen sind und wer die anderen – Deutschland, deine Scheiterhaufen. (...)
verschickung Grausames Postscriptum, irrwitzige Volte der Geschichte: Der Angriff auf Dresden hat nicht nur Leben gefordert, er hat auch Leben gerettet – 174 Männern, Frauen und Kindern aus sogenannten jüdischen Mischehen, Rest einer einst großen Gemeinde. Der Deportationsbefehl war auf den 16. Februar 1945 ausgestellt. Aber «Unternehmen Donnerschlag» hatte den Fahrplan des Holocaust durcheinandergebracht. Einen weiteren Verschickungsbefehl für die Dresdner Juden gab es nicht.
Unter denen, die um einen furchtbaren Preis für andere gerettet wurden, befand sich auch der große Romanist und Sprachwissenschaftler Victor Klemperer, der die Verfolgungsgeschichte der Dresdner Juden in seinen Tagebüchern, die unter dem Titel Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten veröffentlicht wurden, der Nachwelt überliefert hat. Nach einer mehr als zwei Monate währenden abenteuerlichen Odyssee durch Sachsen und Thüringen, unter fortwährender Entdeckungsfurcht, wurden Victor Klemperer und seine Frau Eva von den Amerikanern befreit.
Auch für mich war es ein entscheidendes Datum. Am Morgen des 14. Februar 1945 ging der letzte Transport von Juden und Jüdinnen aus Hamburg nach Theresienstadt ab – ohne meine Mutter. Der Deportationsbefehl für sie war am 9. Februar eingetroffen, mit Poststempel vom Vortag und auf den 14. Februar festgelegt: «Mitzubringen Koffer mit Ausrüstungsgegenständen, vollständige Bekleidung, Bettzeug mit Decken, aber ohne Matratze ... Einsprüche und Beschwerden haben keine aufschiebende Wirkung.»
In dieser Nacht, ich hatte vorgesorgt, verschwanden wir, Eltern und drei Brüder, in den Untergrund, Schreckenshöhepunkt eines zwölfjährigen Dauerschreckens ... Der Befehl galt aber nicht nur den Hamburger oder Dresdner Juden, sondern allen, die sich damals noch im Machtbereich des Hakenkreuzes befanden. Man bedenke: Die Alliierten standen bereits tief auf Reichsgebiet, und die deutschen Fronten, für jedermann erkennbar, kurz vor dem Zusammenbruch. Überall Chaos, Panik und ganze Völkerscharen auf der Flucht, nichts ging mehr – nur Adolf Eichmanns Deportationsmaschine, die funktionierte noch.
Der Text ist ein Auzug aus dem Katalog zur Ausstellung.
Information
«Schuhe von Toten – Dresden und die Shoa» ist der Titel einer Ausstellung des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr (MHM) und Teil einer Veranstaltungsreihe anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Majdanek im Juli 1944 und des internationalen Holocaust-Gedenktages am 27. Januar. Zu den Exponaten gehören unter anderem 60 Schuhe von Schoa-Opfern aus der Gedenkstätte Majdanek. Zu sehen ist die Schau vom 24. Januar bis 25. März im MHM. Zur Ausstellung ist ein umfassender Katalog erschienen, in dem der biografische Zugang durch Interviews und Essays aus unterschiedlichen Perspektiven erweitert wird. Die Beiträge stammen von Wissenschaftlern, Schriftstellern, bildenden und darstellenden Künstlern, Politikern sowie Journalisten. Allen Texten vorangestellt ist der hier in Teilen wiedergegebene Beitrag von Ralph Giordano. Gorch Pieken, Matthias Rogg (Hrsg.): «Schuhe von Toten». Sandstein, Dresden 2014, 344 S., 254 Abb.
www.mhmbw.de