Alexander ist zwölf Jahre alt und besucht Stuttgarts traditionsreiches Eberhard-Ludwigs-Gymnasium. Dass er Jude ist, wissen seine Mitschüler nicht. Aber Alexander würde es ihnen gern sagen. Vielleicht dann, wenn er mehr über seine kulturellen und religiösen Wurzeln weiß. Um diese herauszufinden, informiert er sich am Montagnachmittag beim Tag der offenen Tür der jüdischen Religionsschule in der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGW) in Stuttgart.
Alexanders Schwester Swetlana weiß nur Positives zu berichten. Sie war begeistert vom Unterricht in der Religionsschule. Denn dort, sagt die 22-Jährige, habe sie »Leute kennengelernt, die so denken wie ich.« Alexanders und Swetlanas Familie lebt seit 1997 in Stuttgart. Und wie viele Einwandererfamilien wünschen sich ihre Eltern, dass die Verwurzelung im Judentum, die ihnen aufgrund des totalitären Regimes in ihren Herkunftsländern verwehrt wurde, für ihre Kinder möglich ist.
Fragen Wer bin ich? Wer waren meine Vorfahren? Diesen Fragen hat sich auch Andreas gestellt. In der Religionsschule hat der 16-Jährige schon viel über die Grundlagen jüdischen Lebens und jüdischer Tradition gelernt. »Das Verbindende des Judentums ist der Glaube«, denkt Andreas und trägt nicht nur am Tag der offenen Tür die Kippa. »Ich möchte so sein wie meine Vorfahren«. Nina besucht in Stuttgart eine Waldorfschule. »Der freichristliche Religionsunterricht dort hat mir nicht gefallen«, bekennt die 19-Jährige. So kam sie zur Re- ligionsschule, hat viel Spaß, findet die Lehrer gut und wird im kommenden Schuljahr auch ihr Abitur in Religion ablegen. Ninas Eltern engagieren sich in einem jüdisch-liberalen Verein, religiöse Diskussionen in der Familie findet die Tochter wichtig und gut. Ihre Schwester Liliana ist 17 und bekennt: »Meine Schwester und ich sind die Religiösen in unserer Familie.« Sie fände es seltsam, dass ihre Familie keinen tieferen Zugang zum Glauben gefunden hat, obwohl »doch mein Ururgroßvater Rabbiner war«. Dennoch fühlen sie sich auf ihrem religiösen Weg von ihren Eltern nicht alleingelassen. »Ich war im jüdischen Kindergarten und von der 1. Klasse an im jüdischen Religionsunterricht«, sagt die Schülerin.
Anliegen Unsere Religionsschule liegt mir als Bildungsinstitution der IRGW sehr am Herzen«, sagt Netanel Wurmser. Viele Gemeindemitglieder wüssten nicht, dass man jüdischen Religionsunterricht bekommen könne, so der württembergische Landesrabbiner. Freilich sei auch dieser Unterricht »kein Allheilmittel, um die jüdische Seele zu beglücken«. Ab der 7. Klasse können die Schüler in Baden-Württemberg zwischen jüdischen, christlichen Religionsunterricht oder dem Fach Ethik wählen. »In unserer Religionsschule kommen die Heranwachsenden mit der jüdischen Tradition und mit der Gemeinde in Berührung«, wirbt Landesrabbiner Wurmser für die Religionsschule.
Basis Natürlich seien zwei Wochenstunden zu wenig, um Grundkenntnisse der hebräischen Sprache, die Regeln der Kaschrut, Wissen über die Sokratik und Kompetenz im Umgang mit der Tora zu lehren. Doch »mehr jüdische Luft und Flair« schmeckten sie hier allemal. Darina Pogil ist traurig, dass ihre Eltern ihr nichts über den Glauben haben mitteilen können. »Kinder, die um ihre jüdische Identität wissen, wachsen stabiler auf«, sagt die Verwaltungsleiterin der Jüdischen Grundschule. Für den zwölfjährigen Alexander steht nach diesem Schnuppernachmittag in Religion fest: Ab dem kommenden Schuljahr wird er die jüdische Religionsstunde besuchen. Im Unterricht, bei Klassenfahrten und Ausflügen will er unter den 60 Mitschülern neue Freunde finden und die jüdische Kultur und Tradition kennenlernen. »Unsere größte Motivation ist, die Kinder in der Betrachtung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu lehren, was es heißt, ein Jude zu sein«, sagt sein künftiger Religionslehrer Jehoshua Pierce.