Über Antisemitismus in Europa zu diskutieren, heißt, über die Verrohung der Zivilgesellschaft zu sprechen. Mit diesem Appell an alle endete die Podiumsdiskussion »Aktuelle Herausforderungen für das europäische Judentum« am Montagabend im Rathaus Stuttgart.
Die Podiumsdiskussion mit Elisa Klapheck, liberale Rabbinerin und Professorin für Jüdische Studien an der Universität Paderborn, Gila Lustiger, deutsche Schriftstellerin mit Wohnort Paris, und Sergey Lagodinsky, Rechtsanwalt und Mitglied der Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, hatte als Auftaktveranstaltung der Jüdischen Kulturwochen 2018 in der Landeshauptstadt Baden-Württembergs für einen voll besetzten Großen Sitzungssaal im Stuttgarter Rathaus gesorgt.
Umfragen Aktuelle Umfragen – moderierte die Journalistin Esther Schapira – zeigten, dass der Antisemitismus sichtbarer, weil brutaler geworden sei. »›Du Jude‹ ist heute das am meisten gebrauchte Schimpfwort an Schulen«, sagte Gila Lustiger. Das Wort werde als Synonym für »schwach« benutzt. Der Mangel an Empathie gelte zugleich auch anderen Minderheiten. »Wir müssen über die Verrohung in der Zivilgesellschaft reden«, sagte Gila Lustiger und bekam dafür heftigen Beifall aus der Zuhörerschaft.
Zum Eigenbild der jüdischen Gemeinschaft fragte Rabbinerin Klapheck: »Sind wir die zweite Generation der Überlebenden oder sind wir die erste Generation ›danach‹?« Klapheck, die ihre Sozialisation vor allem in den Niederlanden erfuhr, bescheinigte Deutschland »eine großartige Leistung der Erinnerung«. Kein anderes Volk in Europa habe das geschafft.
Gila Lustiger erinnerte an die »Zeichen der Geschichte« – darunter deftige Flüche und politische Parolen – im Reichstagsgebäude, die russische Soldaten bei der Befreiung Berlins in kyrillischer Schrift hinterlassen hatten und die beim Wiederaufbau erhalten und künstlerisch gefasst wurden. Auch dieses Beispiel deutscher Erinnerung habe »seine Richtigkeit«, sagte Lustiger.
Erinnerungskultur Dass sich trotz aller Erinnerungskultur in Deutschland der Antisemitismus verändert habe, davon sprach Sergey Lagodinsky. »Antisemitismus ist heute nicht mehr latent, er ist konkret«, betonte der Rechtsanwalt aus Astrachan in der ehemaligen Sowjetunion, der heute in Berlin lebt. Er empfehle niemandem, in bestimmten Stadtteilen Berlins mit Kippa umherzulaufen. »Das gehört zur neuen Realität«, so Lagodinsky.
Sensibel gegenüber allen Arten von Ausgrenzung zu sein, sei das Gebot der Stunde, waren sich die Diskutanten einig. Keiner dürfe sich zum Opfer machen lassen.
In Begrüßungsreden bekräftigten Vertreter der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW), des Zentralrats der Juden in Deutschland und von Land und Stadt ihre gemeinsame Freude, schon zum 15. Mal Jüdische Kulturwochen in der baden-württembergischen Landeshauptstadt eröffnen zu können. Die Bekämpfung des Antisemitismus, sagte Barbara Traub, Sprecherin des Vorstands der IRGW, sei »eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe«.
Schutz Bürgermeisterin Isabel Fezer erinnerte an den »Wert der Vielfalt der Stadtgesellschaft«. Und Staatsministerin Theresa Schopper sagte: »Der Schutz der Jüdinnen und Juden gehört zur Staatsräson«. Jüdische Kulturwochen, sagte Mark Dainow, führten Menschen zusammen. »Über Kunst und Kultur wird das Verständnis für die Anliegen und Bedürfnisse der jüdischen Gemeinschaft gefördert«, betonte der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Das Thema der Jüdischen Kulturwochen 2018 – »Aktuelle Herausforderungen für das europäische Judentum« – unter der Schirmherrschaft von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) umspannt in den nächsten zwei Wochen mit mehr als 30 Veranstaltungen zwei markante Daten: 80 Jahre Pogromnacht und 70 Jahre Israel.
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