Duisburg

Quo vadis?

Die Jüdische Gemeinde steht vor großen Herausforderungen. Foto: imago

In Duisburg wird derzeit viel telefoniert. »Ich bekomme Anrufe von Amtsträgern aus den Städten, die fragen: Was ist da los? Wo geht es hin?«, erzählt Patrick Marx, bis Anfang Februar im Vorstand der Ruhrgebietsgemeinde, die die Städte Mülheim an der Ruhr und Oberhausen umfasst. Seinem Nachfolger Dmitrij Yegudin ergeht es nicht anders. »Die Leute rufen an und fragen: Was ist in eurer Gemeinde los? Was ist passiert?«

Grund für die Aufregung sind die Wahlen zum Gemeinderat und deren Interpretation. Kein alteingesessenes Mitglied ist im neu gewählten Gremium vertreten, Klagen über eine vermeintlich zu starke Fokussierung auf zugewanderte, russischsprachige Mitglieder werden laut.

Stimmen Der Vorstand hatte sich noch nicht konstituiert, da erschien in einer Lokalzeitung bereits der erste Artikel zu den Wahlen. Ob der neue Gemeinderat die Dialogarbeit des abgewählten fortsetzen könne und wolle, sei völlig offen, hieß es. Wer mit den Informationen zur Wahl so früh an die Öffentlichkeit gegangen war, kann Patrick Marx nicht sagen.

Doch könne er die Sorge vor einer Isolierung der Gemeinde in der Stadtgesellschaft teilen. »Diese Wahl ist für mich Schlusspunkt einer Entwicklung, die seit Jahren läuft und die in die falsche Richtung gelaufen ist«, erklärt Marx. 4,1 Prozent der Stimmen holte das ehemalige Vorstandsmitglied und verpasste damit den Sprung in den Gemeinderat. »Ich gehe davon aus, dass die gut 150 Stimmen, die ich bekommen habe, echte Stimmen waren.«

Andere Bewerber hätten Stimmen von Mitgliedern erhalten, die weder die Gemeinde besuchten noch Kultusgeld zahlten. Der Anteil an Briefwählern sei in diesem Jahr extrem hoch gewesen. Damit steht der Vorwurf der Einflussnahme auf Mitglieder im Raum, Marx selbst wolle »daraus aber keine Schlüsse ziehen«.
Briefwahl Michael Rubinstein, Geschäftsführer der Gemeinde, kennt die Stimmzahlen. »Es waren mehr Briefwähler, aber so war es auch schon bei der letzten Wahl«, betont er.

Zudem sei die Wahlbeteiligung deutlich gestiegen, da sei die vermehrte Abgabe der Stimmen per Briefwahl, zumal mit Blick auf die Altersstruktur in der Gemeinde, sicherlich nicht ungewöhnlich. Dass die Mitglieder in diesem Jahr besonders offensiv zur Teilnahme an der Wahl aufgefordert wurden, sei nicht verwerflich. »Wir wollen ja, dass möglichst viele Gemeindemitglieder abstimmen, um ein repräsentatives Ergebnis zu bekommen«, sagt Rubinstein.

Russisch Eben dieses Ergebnis passt Patrick Marx nicht. »Wenn von neun Gemeinderatsmitgliedern einer gebrochen Deutsch spricht, ist das so eine Sache«, kritisiert er die gewählten Vertreter. Die Gemeinderatssitzungen würden fortan auf Russisch abgehalten, erzählt Marx. »Die erste Sitzung des neuen Gemeinderats hat bereits auf Deutsch stattgefunden«, kann allerdings Michael Rubinstein berichten. »Wenn jemand etwas nicht verstanden hat, wurde es übersetzt. Sicherlich wird es bei Themen, bei denen es entscheidend ist, dass wirklich jedes Wort genau verstanden wird, Bedarf an einem Dolmetscher geben. Aber das ist machbar, wir lösen das.« Schließlich würden im neuen Gemeinderat eben die Menschen sitzen, die »demokratisch von ihrer Gemeinde gewählt« wurden.

Patrick Marx geht noch weiter, verbindet mit den vermeintlich mangelnden Deutschkenntnissen einen anderen Punkt: »Die russischsprachigen Leute haben kein Interesse an der deutschen Gesellschaft«, sagt er. Seine Familie habe sich stets als Teil der deutschen Gesellschaft verstanden. »Das sehen viele dieser Neuzuwanderer anders. Die leben in einer Parallelwelt, das ist das Problem.«

Marx geht davon aus, dass die Gemeinde mit den zugewanderten Mitgliedern an der Spitze nicht mehr den Schwerpunkt auf die jüdische Religion, sondern auf die russische Kultur legen wird. »Wie machen wir weiter, wenn wir da nicht mehr unsere Heimat sehen?«, fragt Marx.

In seiner Familie und im Freundeskreis würde man nach der verlorenen Wahl vermehrt eine Alternative zur Jüdischen Gemeinde Duisburg-Mülheim/Ruhr-Oberhausen suchen. »Ob es privat sein wird, ob es ein Verein wird, eine neue Gemeinde – es ist zu früh, das zu sagen.« Der Austritt sei jedenfalls eine Option, die nicht unwahrscheinlich sei.

Umbauarbeiten Solche Aussagen von Patrick Marx kennt der neue Vorstandsvorsitzende Dmitrij Yegudin bereits aus der Presse. »Da fragen auch Vorstände aus anderen Gemeinden bei uns nach und wundern sich. Die Leute fühlen sich schwer beleidigt, dass zwischen russischen und deutschen Juden unterschieden wird«, berichtet Yegudin.

»Wir sehen es gerne, wenn Leute in die Gemeinde kommen, die Türe ist für jeden offen. Herr Marx hat sich zurückgezogen, aber der Kontakt zu Henry Hornstein, dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden, ist sehr gut«, betont Yegudin. Hornstein, der wie Marx nicht genügend Stimmen für einen Einzug in den Gemeinderat bekam, stehe dem neuen Vorstand hilfreich zur Seite.

Auch wenn die Gemeinde vor sozialen Fragen, den dringend notwendigen millionenschweren Umbauarbeiten am Gemeindezentrum und dem Ausbau des jüdischen Friedhofs stehe, sei es »die größte Aufgabe, die Leute wieder in die Synagoge zu bekommen. Außerdem wollen wir im Kindergarten Hebräisch unterrichten, und wir überlegen uns, ob wir dort bilingual, also Deutsch und Englisch, unterrichten.

Im Jugendzentrum wird nur Deutsch gesprochen. Wir wollen hier keinen russischen Verein machen, so wie das manche behaupten. Wir wollen eine jüdische Gemeinde bleiben, das ist unser Grundstein.«

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