Krisentreffen im Jeanette-Wolff-Seniorenzentrum. Inge Marcus, Margot Wolkartz, Käthe Blumentritt und Ruth Galinski sind aufgebracht. Noch immer diskutieren sie über die jüngste Repräsentantenversammlung (RV) vor gut zwei Wochen, bei der die Gemeindeälteste Marcus vor der nichtöffentlichen Sitzung zum Verlassen des Saales aufgefordert worden war. Die vier Frauen sind entsetzt: »So eine Respektlosigkeit«, schimpft Ruth Galinski.
Zu Beginn der RV, die im Speisesaal des Seniorenzentrums abgehalten wurde, sprach man noch über einen achtungsvollen Umgang mit älteren Menschen, und urplötzlich wird die 90-Jährige nach der öffentlichen Sitzung aufgefordert zu gehen. »Das hat es noch nie gegeben, und das gehört sich nicht«, sagt die 90-jährige Galinski, deren verstorbener Ehemann Heinz Galinski mehrere Jahrzehnte Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland war.
Respekt Doch was war genau geschehen? Am Anfang der RV gedachte man des kürzlich verstorbenen Nathan Milgrom, der ebenfalls zu den Gemeindeältesten zählte. Inge Marcus und Rudi Rosenberg saßen zum ersten Mal ohne Mikrofone am Tisch der Gemeindeältesten. Gegen 22.30 Uhr – Rudi Rosenberg war bereits gegangen – sollte eine geschlossene Sitzung beginnen, von der die Öffentlichkeit und die Medienvertreter ausgeschlossen waren. »Plötzlich drehte sich die Sozialdezernentin Alexandra Babes zu mir um und sagte: ›Frau Marcus, es ist geschlossene Sitzung. Sie müssen gehen.‹«
Inge Marcus sitzt bei Repräsentantenversammlungen seit mehr als 20 Jahren an diesem Tisch. Davor war sie 34 Jahre lang Repräsentantin und leitete zeitweise den Sozialausschuss. Als sie 70 wurde, hatte sie dem damaligen Vorsitzenden Heinz Galinski mitgeteilt, dass sie nicht länger RV-Mitglied sein wolle, da »Jüngere mal ran sollten«. Diese Entscheidung hatte er sehr bedauert und wollte sie mit dem Amt einer Gemeindeältesten ehren. »Wir dürfen nicht abstimmen, erhalten aber sämtliche Vorlagen und haben normalerweise Mikrofone auf unserem Tisch stehen und dürfen unsere Stimmen erheben«, sagt Marcus. Denn ansonsten dürfen nur Repräsentanten diskutieren.
»Ich bin Gemeindeälteste und darf in der geschlossenen Sitzung bleiben«, teilte Inge Marcus Babes am Abend mit. Daraufhin soll es ein eifriges Blättern in der Geschäftsordnung gegeben haben – aber man fand keinen Paragrafen, der auf die Anwesenheit der Gemeindeältesten eingeht. Nur Sara Nachama soll Inge Marcus unterstützt haben, indem sie anführte, dass es doch auch ein Gewohnheitsrecht gebe.
Die Repräsentanten beschlossen, in einer geheimen Wahl abzustimmen, ob Frau Marcus bleiben dürfe – das war der 90-Jährigen zu viel. »Das wollte ich mir und den anderen nicht antun und bin gegangen.« Aber es habe sie getroffen und verletzt. Zum ersten Mal sei eine Gemeindeälteste zum Gehen aufgefordert worden. Unter den bisherigen Vorsitzenden, auch in der ersten Amtszeit von Gideon Joffe, sei so etwas nicht vorgekommen.
Ehrenhalber »Mit einfacher Mehrheit kann die RV die Teilnahme einzelner Personen an der nichtöffentlichen Sitzung zulassen.« So die Geschäftsordnung. »Nun muss gefragt werden, ob die von der RV auf Lebenszeit gewählten Gemeindeältesten ganz allgemein der ›Öffentlichkeit‹ zugerechnet werden oder ob sie nicht durch ihre Wahl quasi Repräsentanten ehrenhalber sind«, sagt Michael Joachim, ehemaliger RV-Vorsitzender.
Dass nun zum ersten Mal seit 25 Jahren über einen Ausschluss von Gemeindeältesten diskutiert werde, sei der Betroffenen gegenüber ein Affront. Es fehle der Mehrheit jede Form von Empathie, so Joachim. »Frau Marcus hat großes Feingefühl bewiesen, dass sie nicht nach der Auseinandersetzung um das Bleiben oder Hinausgehen die Abstimmung abgewartet hat, sondern unter Protest gegangen ist. Ich werte das Verhalten des Vorstandes der Gemeinde wie das des Präsidiums als Schikane der Gemeindeältesten gegenüber.«
»Wir Alten fühlen uns in die Ecke gedrängt«, sagt Margot Wolkartz, die auch wie Ruth Galinski und Käthe Blumentritt die öffentliche Sitzung verfolgt hatte.
Aktiv Sie sind ohnehin unternehmungs- lustig und wollen etwas bewirken. Deswe- gen haben sie kürzlich einen Hausbeirat im Jeanette-Wolff-Seniorenzentrum gegründet, in dem sie seit Jahren betreut leben. Mittlerweile gehören dem Beirat mehr als sieben Damen an. »Eine tolle Idee«, sagt Siggi Wolf, Leiterin des Seniorenzentrums, die sie darin unterstützt. »Uns sind öfter mal Sachen aufgefallen, die uns nicht gefielen«, sagt Margot Wolkartz.
Beispielsweise, dass es keine Auffahrt zum Garten gibt und somit die Bewohner, die auf einen Rollator angewiesen sind, ihn gar nicht erreichen können. »Davon mal abgesehen, dass er in keinem blühenden Zustand ist, sondern eher verwahrlost«, sagt die 83-jährige Wolkartz. Die Bänke und Tische sind in einem schlechten Zustand und müssten überholt werden. Ebenso wünschen sie sich für ihre Wohnungen eigene Stromzähler. Deshalb hatten sie auch kürzlich die Sozialdezernentin Alexandra Babes eingeladen und ihr ihre Anliegen vorgetragen.
Ausflug Nur allein Meckern liegt den Damen nicht. Sie wollen Positives bewirken und haben jüngst einen Basar auf die Beine gestellt. Margot Wolkartz hatte Kuchen gebacken, jeder spendete Sachen. Mehr als 200 Euro kamen zusammen. Von dem Geld wollen sie mit den anderen Bewohnern einen Ausflug unternehmen. Wer sich den Ausflug nicht leisten kann, wird von den Einnahmen des Basars gesponsert. »Das ist eine wunderbare Abwechslung für alle«, sagt Käthe Blumentritt, ehemalige Lehrerin und früheres Mitglied eines Stadtbeirates in Westdeutschland.
»Wir sind aktiv – und werden uns doch nicht alles gefallen lassen.« Und der erste Schritt ist auch schon getan: Inge Marcus will an der nächsten RV, die für September geplant ist, nicht teilnehmen.