Das Gezwitscher der Vögel und der Wind, der sich in den Thujen verfängt, sind die einzigen Geräusche, die die Stille auf dem alten jüdischen Friedhof an der Thalkirchner Straße unterbrechen. Die 200-jährige Geschichte, die mit ihm verbunden ist und das Auf und Ab der jüdischen Gemeinde Münchens in dieser Zeit widerspiegelt, erzählen die vielen Grabsteine. Das geht auch ohne Worte.
Der »Ort des ewigen Lebens« im Süden der Landeshauptstadt wurde im Jahr 1908 durch den neuen Friedhof ersetzt. Trotzdem fanden auf dem zweieinhalb Hektar großen Gelände immer wieder Beisetzungen in bereits vorhandenen Grabstätten statt, die letzte im Jahr 2003. Erich Haas fand damals, ganz in der Nähe der 1882 im Zuge von Erweiterungsmaßnahmen errichteten dritten Aussegnungshalle, neben seinen Eltern die letzte Ruhestätte.
Johanna Angermeier ist seit einem halben Jahrhundert die Verwalterin des alten Friedhofs und kennt jeden Winkel, jeden Namen, jedes Detail. Natürlich kennt sie auch die Geschichte der Familie Haas, die in das düstere Kapitel des Nationalsozialismus führt. Bernhard Haas, Erichs Vater, für den das Grab ursprünglich angelegt wurde, gehörte zu jenen Juden der Stadt, die allein ihres Glaubens wegen sterben mussten. Schwer verletzt wurde er nach den Ausschreitungen in den Novemberpogromen 1938 ins Konzentrationslager Dachau gebracht und zwei Wochen später durch Genickschuss ermordet.
plünderungen Hinweise auf die Untaten der Nazis finden sich überall und auf unterschiedliche Weise. Zum Beispiel auf dem Grabstein von Mina und Jonas Thannhauser. Auf den beiden Grabplatten ist die von Hand angebrachte Zahl 14 zu lesen; die Zahl ist die Kennzeichnung für den geplanten Abtransport durch die Nazis, die auch auf dem Friedhof vor Plünderungen nicht zurückschreckten und mitnahmen, was sie gebrauchen konnten. Dazu zählten große Grabsteine oder Metallplatten, die sich zum Einschmelzen und zur Wiederverwendung eigneten. Im Fall des Thannhauser-Grabes gelang ihnen das allerdings nicht. Im Zuge der Kriegswirren hatten die Nazis für den geplanten Abtransport keine Zeit.
Der 200. Jahrestag des alten Friedhofs ist für IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch der richtige Anlass, um an seine vielschichtige gesellschaftliche und historische Bedeutung zu erinnern. »Die Pflege der jüdischen Friedhofskultur ist nicht nur für die Historie der Gemeinde wichtig.
Im Alten Israelitischen Friedhof spiegelt sich auch ein Stück der Geschichte Münchens wider«, betont sie und weist auf die Namen vieler bedeutender Juden hin, die München prägten. Die Wiederherstellung des Hauptraums im Tahara-Haus, für die sich Charlotte Knobloch konsequent eingesetzt hat, ist ein entscheidender Schritt, um die Erinnerung wachzuhalten. Mit der Projektbetreuung hat sie Ellen Presser betraut, die Leiterin der IKG-Kulturabteilung. Im Herbst soll eine Gedenkfeier, deren genauer Termin noch nicht feststeht, stattfinden und mit dem ersten Bauabschnitt begonnen werden.
Ewigkeit Die Kulturchefin der IKG ist es auch, die abgesehen von den von ihr begleiteten Sanierungsarbeiten zu den »Störern« der Friedhofsruhe zählt: Wenige Male im Jahr führt sie historisch interessierte Besuchergruppen über den Friedhof, der sonst für die Öffentlichkeit geschlossen bleibt. Sie wechselt sich dabei mit Chaim Frank ab, der oft an den Wochenenden mit Besuchergruppen unterwegs ist. Für den Publizisten und Leiter des Dokumentations-Archivs für jüdische Kultur und Geschichte ist der alte Friedhof ein kulturgeschichtliches Kleinod. Im Gegensatz zu christlichen Friedhöfen, wo viele Gräber nach einiger Zeit aufgelöst werden können, sind jüdische Begräbnisstätten für die Ewigkeit angelegt.
Für Regisseur Michael Verhoeven wurde in den 80er-Jahren ausnahmsweise der Friedhof geöffnet – als er den Film Die Weiße Rose drehte. Verwalterin Angermeier erinnert sich noch gut, als in der Trauerhalle die Gerichtsverhandlung gedreht und im Waschraum ein Schafott aufgebaut wurde.
Bei den Führungen werden auch solche Episoden erwähnt, doch die Grabsteine verraten noch viel mehr. »Man kann sehr gut erkennen«, weist Ellen Presser auf besondere Feinheiten hin, »dass auch die Gestaltung der Gräber oft dem jeweiligen Zeitgeschmack und architektonischen Trends unterlag. Manchmal waren Metallplatten angesagt, ein anderes Mal besondere Steine.« Der Zahn der Zeit, der an vielen Grabsteinen nagt und manche in bedenkliche Schieflage bringt, ist kaum zu stoppen.