Bei der Gedenkstunde zum 74. Jahrestag der »Reichskristallnacht« im Saal des Alten Rathauses betonte Präsidentin Charlotte Knobloch »den hohen Stellenwert, den die Landeshauptstadt München seit vielen Jahren der Erinnerungskultur beimisst«. Dank Oberbürgermeister Christian Ude und seiner Unterstützung sei es möglich gewesen, »eine gewachsene Tradition an Veranstaltungen und neue Formen des Gedenkens zu etablieren, die ein angemessenes und kluges Erinnern in dieser Stadt auch in Zukunft gewährleisten«.
Besorgnis Hinsichtlich der beiden vergangenen Jahrzehnte sprach Christian Ude von gegensätzlichen Empfindungen. Es habe sich im Miteinander und im selbstkritischen Zurückschauen auf das Verhalten während der NS-Zeit viel Positives getan. Die am 8. November im Polizeipräsidium eröffnete Ausstellung hob er dabei besonders hervor. Auf der anderen Seite stünden jedoch Entwicklungen, die Anlass zur Besorgnis seien. Ude verwies auf den Antisemitismusbericht des Deutschen Bundestages, wonach etwa 20 Prozent der Bevölkerung judenfeindliche Einstellungen haben.
Als unerträgliche Beispiele antisemitischer Gewalt nannte Ude die Angriffe auf jüdische Repräsentanten. Dabei müsse man immer wieder feststellen, dass es hier mitnichten um die letzten Überlebenden der Naziideologie geht, sondern um junge Männer.
Ude erinnerte an eine Aussage der Münchner Ehrenbürgerin Hildegard Hamm-Brücher, die bereits 1945 gesagt hatte, dass alle sozialen Milieus der Bundesrepublik die notwendige Sensibilisierung haben müssten, um Gefahren von Rechts zu erkennen. »Die Aktualität des Themas ist beklemmend«, betonte der Oberbürgermeister. Auch in den nächsten Jahrzehnten werde »das Gedenken an die Opfer des 9. November 1938 eine Herausforderung für die Zivilgesellschaft, für uns alle« bleiben. Bei diesem Thema gebe es keinen Schlussstrich und keine Heilung durch zeitliche Distanz.
Schoa »Novemberrevolution, Hitlerputsch, Pogromnacht, Mauerfall – ein ganzes Jahrhundert deutscher Geschichte spiegelt sich in einem einzigen Tag – jenem Schicksalstag der Deutschen«, fasste Charlotte Knobloch die Ereignisse an den verschiedenen 9.-November-Tagen des 20. Jahrhunderts zusammen. Die Nacht im Jahr 1938 markiere den Übergang von Ausgrenzung und Diskriminierung zu systematischer Verfolgung, die drei Jahre später in der Schoa mündete. Heute könne sich niemand mehr vorstellen, wie schnell gefestigte Formen des zivilisierten Umgangs miteinander wegbrechen konnten.
Nicht zuletzt deshalb hob Knobloch die Bedeutung Europas hervor. Der diesjährige Friedensnobelpreis nehme alle in die Pflicht: »Die Europäische Union ist die vielleicht einzige, wahr gewordene politische Utopie: Einst bis aufs Blut verfeindete Völker leben und wirken für gemeinsame Ziele. Die EU ist damit der Beweis, dass wahre Stärke niemals die einer einzelnen Nation ist, sondern immer nur aus Gemeinsamkeit erwachsen kann.«
Gleichzeitig erinnerten die Ereignisse des 9. November 1938 und der folgenden Jahre an die Zerbrechlichkeit von Frieden, Demokratie und Freiheit, so Knobloch. Diese seien »keine Geschenke. Es sind Prozesse, die es Tag für Tag zu formen und zu festigen gilt. Sie verpflichten uns, unserer Verantwortung in der Gesellschaft gerecht zu werden. Die Geschichte unseres Landes hat uns ein sehr präzises Vermächtnis hinterlassen. Es lautet: Nie wieder!«. Dieses »Nie wieder!« bedeute kein ritualhaftes Gedenken, sondern Wachsamkeit, Streben nach gesellschaftlichem Miteinander, Respekt und Wertschätzung. Knobloch appellierte insbesondere an die Jugend: »Demokratie lebt von Zivilcourage. Engagieren Sie sich für diese Gesellschaft. Politik spielt sich nicht irgendwo da oben ab, sondern immer und überall – sie betrifft uns alle und ist unser aller Angelegenheit.«
Widerstand Nach einem historischen Rückblick auf die NS-Zeit brachte der frühere Bundesminister Theo Waigel persönliche Töne ein. Dass es immer zwei Möglichkeiten des Handelns gebe, sei dem ehemaligen Bundesfinanzminister einmal mehr in seinem Berliner Amtssitz bewusst geworden. In dem Gebäude des ehemaligen Reichsluftfahrtministeriums wurde unter Hermann Göring »der wirtschaftliche Mord« an deutschen Juden beschlossen. Dort war auch der Offizier Harro Schulze-Boysen tätig, der sich später als Widerstandskämpfer der Roten Kapelle anschloss und hingerichtet wurde. Er hinterließ in seiner Zelle den Vers: »Die letzten Erdendinge sind Strang und Fallbeil nicht. Und unsere heut’gen Richter sind nicht das Weltgericht.«
Waigel war und ist von diesen Versen tief beeindruckt. Das lange Schweigen über die Vorgänge während der Schoa hat bei dem Politiker aber auch noch eine andere Wunde hinterlassen. In seiner Heimatgemeinde Ursberg in Schwaben wurden durch das Nazi-Euthanasieprogramm mehrere Hundert Menschen ermordet.
Als Kuratoriumsvorsitzender des NS-Dokumentationszentrums München betonte Waigel die Notwendigkeit, Berichte von Zeitzeugen zu sichern und zu verbreiten. Gleichzeitig, erläuterte er, sind »wir alle aufgerufen, unseren Beitrag zu leisten. Der kann sich nicht in schweigender Zustimmung erschöpfen. Wo immer sich braunes Gedankengut auftut, wo immer Unbelehrbare ihre unsäglichen Tiraden ausschütten, aber auch wo Dummheit und Ignoranz zu Verharmlosung oder dummem Gerede führt, sind wir aufgefordert, Stellung zu beziehen und den Boshaften, Böswilligen, aber auch den Törichten, klar die Meinung zu sagen«.