Berlin

Nie mehr erste Stunde

Der Weckalarm um 6.15 Uhr gehört mit Beginn der Sommerferien für Barbara Witting der Vergangenheit an. Seit mehr als 40 Jahren – davon 12 Jahre als Direktorin des Jüdischen Gymnasiums Moses Mendelssohn – hieß es für Witting in aller Frühe: »Augen auf und aufstehen!« Mehrere Wecker hat sie in dieser Zeit verschlissen, sagt die 63-Jährige und schmunzelt. Zuletzt übernahm ihr Handy den Weckdienst. Verschlafen hat sie – nach eigenen Angaben – übrigens kein einziges Mal.

In diesen Tagen bereitet sie noch die Stundenpläne und die Lehrerverteilung für das nächste Schuljahr vor. Ihr Nachfolger Aaron Eckstaedt soll eine perfekte Organisation vorfinden. Dann wird Witting ihren großen Schreibtisch leerräumen und die Bilder von den Wänden nehmen – nach zwölf Jahren verlässt Witting die Jüdische Oberschule, um in Pension zu gehen.

Doch nun, wenige Tage vor den Ferien, sitzt Barbara Witting noch in ihrem Büro. Es ist zehn Uhr, und sie hat bereits Englisch unterrichtet, ein Gespräch mit Eltern geführt, die ihr Kind anmelden wollen, und hat gleich noch einen Termin mit einer besorgten Mutter. Anschließend muss sie zu einer anderen Schule eilen. In der Woche davor hatte sie einen freien Tag, bevor sie wieder ihren Koffer packte und eine Gruppe auf Klassenfahrt begleitete.

»Ihr Ausscheiden ist ein großer Verlust für die Schule«, sagt Jan Mönikes, Elternvertreter der Schule. Witting habe die Schule »klug geführt« und es geschafft, die Institution im öffentlichen Leben präsent zu halten. »Frau Witting hat sich sehr gut für die Belange der Schule eingesetzt«, betont auch Brigitta Hayn vom Förderverein. Die Zusammenarbeit sei hervorragend gewesen.

traumberuf Schon immer wollte Barbara Witting Lehrerin werden. Dennoch hört sie nun ohne Wehmut auf. Sie habe genug davon, jeden Tag so früh aufzustehen, stattdessen möchte sie nun ein Leben ohne Stundenplan führen. Ihr Mann Werner geht ebenfalls in Rente, die beiden wollen von nun an viel reisen – auch außerhalb der Schulferien. Vor allem ihre Tochter in Israel wollen sie besuchen und außerdem möglichst viele Länder sehen, in denen sie bisher noch nicht waren.

Segeln, Tennis, Schwimmen, regelmäßiges Training im Fitnessklub stehen ebenfalls bei Witting auf der Agenda, genau wie Konzert-, Kino- und Museumsbesuche. »Und vor allem möchte ich viel lesen«, sagt sie. Ganze Tage könne sie mit dem Schmökern von Literatur verbringen. Auch ihr Iwrit und Französisch will sie verbessern.

So energisch wie sie ihr Leben jetzt plant, stand sie bereits mit 23 Jahren vor den Schülern und unterrichtete in Köln eine fünfte Klasse – obwohl sie damals selbst noch Studentin war. Auch als sie ihre beiden Töchter bekam, nahm Witting lediglich den gesetzlich vorgeschriebenen Mutterschutzurlaub und stand rasch wieder an der Tafel.

Als sie 1987 Direktorin eines Gymnasiums in Bergisch Gladbach wurde, schaffte sie es, Bedenken vieler Lehrer und Eltern auszuräumen: »Ich war eine junge Frau – da konnten sich viele nicht vorstellen, dass das klappen könnte.«

problemschüler »Schreckliche Klassen oder schlimmste Klassen kenne ich nicht«, beteuert Witting. Auf schwierigere Schüler einzugehen, hat ihr immer gelegen. Ihre Tür stand den Schülern offen, damit jeder sehen konnte, dass man hereinkommen kann. Schüler und Kollegen sollten wissen, dass sie grundsätzlich ansprechbar ist.

Vor mehr als zwölf Jahren hatte sie die Stellenausschreibung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin entdeckt, die damals eine neue Leitung für die Jüdische Oberschule suchte. Für Witting stand sofort fest, dass sie sich bewerben muss. Ihr Ehemann war bereits aus beruflichen Gründen nach Berlin gezogen. Ihre jüngste Tochter wollte ebenfalls zum Studium in die Hauptstadt.

Bis dahin lebte Barbara Witting in Bergisch Gladbach und leitete das Nicolaus-Cusanus-Gymnasium. So tauschte sie ein Haus mit Garten gegen eine kleine Wohnung und eine Schule mit 1000 Schülern gegen eine mit ein paar Hundert – und war glücklich.

Es war nicht ihr erster Umzug. Geboren wurde Witting in Kalifornien, da ihr Vater 1938 von Bochum mit einem Kindertransport nach Amerika geflohen war. Aus seiner Familie überlebte niemand sonst die NS-Zeit. Anfang der 50er-Jahre kam die Familie nach Deutschland zurück – ursprünglich sollte es nur eine Zwischenstation sein. Nachdem ihr Vater jahrelang die Zeitungen nach antisemitischen Tendenzen durchforstet hatte, teilte er irgendwann mit, dass die Familie doch bleiben werde. Offenbar hatte er keine Bedenken mehr.

Idee Eine Angewohnheit hat Barbara Witting immer noch: Neben ihrem Bett liegen Stift und Papier – falls sie im Schlaf eine gute Idee hat. Vielleicht ist ihr da auch etwas für ihre letzte Abiturrede eingefallen. Vor 27 Jahren hielt sie ihre erste. Auf jeden Fall möchte die Pädagogin Schülern immer mit auf den Weg geben, sich für Frieden und Demokratie einzusetzen.

Auch sie selbst will sich von nun an politisch engagieren. Bei all dem, was sie sich vorgenommen hat, könnte es gut sein, dass sie doch wieder um 6.15 Uhr geweckt werden muss.

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