SchUM-Städte

Neuer Glanz am Rhein

Bäume, hohes Gras und unzählige Grabsteine: Der jüdische Friedhof »Heiliger Sand« in Worms ist ein verwunschen wirkender Ort. Ohne Gäste ist er selten. Sie kommen und staunen: Die ältesten Steine auf dem ältesten jüdischen Friedhof Europas stammen aus der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts.

Der Friedhof gehört zu den Kostbarkeiten, die in Speyer, Worms und Mainz an die bedeutende jüdische Geschichte erinnern, deren Blütezeit im Mittelalter lag. Wegen der Anfangsbuchstaben ihrer hebräischen Namen werden sie auch »SchUM-Städte« genannt. Und vielleicht zählen sie bald zum UNESCO-Weltkulturerbe.

Stein Sie sind überall: Die Grabsteine stehen teils dicht gedrängt nebeneinander, auf weiten Grasflächen und an den Wegen entlang. Das älteste lesbare Datum auf einem Stein stammt von 1058/59. Der Friedhof wurde zu etwa derselben Zeit gegründet, als die Synagoge gebaut wurde, um 1034. Als 1911 ein neuer jüdischer Friedhof eingerichtet wurde, hörten die Beerdigungen allmählich auf.

Die Gräber blieben in bald 1000 Jahren zwar nicht von Zerstörungen verschont. Aus bisher nicht geklärten Gründen überstand der Friedhof aber sogar den Nationalsozialismus. Viele Gräber erinnern an wichtige Namen. Unter anderem an Rabbi Meir von Rothenburg, der 1293 starb, oder an Rabbi Nathan ben Issak, der 1333 beerdigt wurde.

Doch nicht nur der Friedhof steht in Worms für eine kontinuierliche jüdische Geschichte. Bei Führungen der Touristeninformation rafft Fremdenführer Rolf Jochum an jedem ersten Sonntag im Monat die Jahrhunderte zusammen. Wahrscheinlich sind die ersten Juden im vierten Jahrhundert im Gefolge der Römer in Worms aufgetaucht, sagt Jochum. »960 wurden sie zum ersten Mal erwähnt.« Im 11. Jahrhundert ist das Judenviertel entstanden.

brüche Rolf Jochum führt seine Gruppen durch die Judengasse und erzählt, wie anerkannt Juden in der Stadt waren: Unter anderem konnten sie freien Handel treiben und hatten ihre eigene Rechtsprechung. Als es während der Kreuzzüge zum ersten Pogrom kam, sei es genauso gewesen wie bei ähnlichen Vorfällen später: »Die Gewalt ging von unten aus, nicht von der Obrigkeit.« Trotz einiger Vertreibungen seien die Wormser Juden immer schnell zurückgekehrt. Die Gemeinde überdauerte die Jahrhunderte bis zur Pogromnacht 1938 bemerkenswert stabil, betont Rolf Jochum: »Juden machten immer fünf bis sieben Prozent der Bevölkerung aus.«

Das unterscheidet Worms von Speyer und Mainz – wo es viel früher deutliche Brüche gab. Aufgeblüht sind die Gemeinden aller drei Städte im Mittelalter, als sie ihre Institutionen ausbauten. Damals entstand die Abkürzung »SchUM« aus den Anfangsbuchstaben ihrer mittelalterlichen hebräischen Namen: Schpira (Sch), Warmaisa (der hebräische Buchstabe Waw wird als U verwendet) und Magenza (M). Ein Ausschuss der drei Städte vertrat die Juden gegenüber den Obrigkeiten. Außerdem gab es eine gemeinsame Richtlinie bei der Auslegung der Religionsgesetze: die Takkanot SchUM.

Damit und mit ihren bedeutenden Talmudschulen hatten die SchUM-Städte Anfang des 13. Jahrhunderts eine führende Rolle im aschkenasischen Judentum. Doch darauf folgten Krisen: Pestpogrome und andere, für die Geschichte der Juden in Deutschland typische Gewaltangriffe erschütterten die Gemeinden ab 1350 in wiederkehrenden Wellen. Trotzdem haben sich erstaunlich viele Zeugnisse aus der langen Vergangenheit bis heute erhalten.

Antrag Geht es nach den rheinland-pfälzischen Kulturpolitikern, sollen diese Zeugnisse Teil des UNESCO-Weltkulturerbes werden. Im Juni 2012 unterschrieben der damalige rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck und die Vertreter der SchUM-Städte einen Kooperationsvertrag zur Aufnahme in die deutsche Vorschlagsliste.

2020 soll der Vorschlag eingereicht werden. Dann dauere es ungefähr ein Jahr bis zur Entscheidung, sagt die Historikerin Susanne Urban, die seit Ende 2015 als Geschäftsführerin des Vereins »SchUM-Städte Speyer, Worms und Mainz« in Worms den Antrag bearbeitet und die UNESCO-Bewerbung vorbereitet. Vereinsmitglieder sind die drei Städte sowie deren jüdische Gemeinden und der Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Rheinland-Pfalz.

Die ersten Pläne für die Bewerbung gab es 2004/2005, sagt Susanne Urban. Die lange Vorlaufzeit sei nötig, weil so viele Forschungen in verschiedenen Bereichen laufen. Mit dabei sind unter anderem Judaisten und Architekten sowie Bau- und Kunsthistoriker. Susanne Urban hat zudem eine Veranstaltungsreihe organisiert, die bis Mai 2018 mit Vorträgen an die SchUM-Tradition anknüpft.

raschi In Worms begleitet Rolf Jochum derweil seine Gruppe von der Judengasse zur Synagoge und ins Jüdische Museum im Raschi-Haus. Von der ersten, 1034 erbauten Synagoge ist nur noch eine Tafel mit den Namen des Stifterehepaars erhalten: Jakob ben David und Rahel. Auch die zerstörten Nachfolgebauten gibt es nicht mehr, der letzte wurde 1938 in der Pogromnacht niedergebrannt.

In der Nachkriegszeit wurde das Gebäude möglichst ähnlich wieder aufgebaut, 1961 wurde die Synagoge eingeweiht. Immer erhalten geblieben ist die sieben Meter tiefe Mikwe neben der Synagoge, die 1185/86 von Joseph Halevi gestiftet wurde. Sie muss restauriert werden und ist derzeit für Besucher nicht zugänglich.

Und dann ist da ein weiterer, für fromme Juden besonders wichtiger Ort: das Raschi-Haus. Es wurde auf den mittelalterlichen Gewölben des früheren Lehrhauses der Gemeinde errichtet und beherbergt neben dem Jüdischen Museum das Stadtarchiv. Im einstigen Lehrhaus hat um 1060 an der damaligen Talmudhochschule Rabbiner Salomon ben Isaak, genannt Raschi, studiert – der wichtigste jüdische Gelehrte des aschkenasischen Judentums im Mittelalter.

Um 1065 soll er wieder an seinen Geburtsort Troyes zurückgekehrt sein, wo er 1105 starb. Raschi ist vor allem wegen seiner verständlichen Talmudkommentare berühmt geworden. Seine Bedeutung ist bis heute sehr groß. »Für viele fromme Juden ist es wichtig, einmal im Leben an Raschis Wirkungsort Worms zu kommen«, sagt Rolf Jochum.

gemeinde Natürlich brachte auch in Worms der Nationalsozialismus Zerstörungen, Verfolgungen und Morde. Daran erinnern Tafeln in der Synagoge mit den Namen der Menschen, die während der Schoa deportiert und ermordet wurden. Die jüdische Lehrerin Hertha Mansbacher hatte die Namen gesammelt. Inzwischen gibt es in Worms wieder eine kleine jüdische Gemeinde, die formal zur größeren Gemeinde in Mainz gehört.

Von den 1030 Mitgliedern in Mainz stammen rund 100, also etwa zehn Prozent, aus Worms, sagt Stella Schindler-Siegreich, die der Gemeinde viele Jahre vorstand. Mainz sei gleich nach Kriegsende für die gesamte Rheinebene zuständig gewesen – vor der Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion zu Beginn der 90er-Jahre habe die Mitgliederzahl in Mainz immer nur bei rund 100 gelegen. Mittlerweile bietet die Mainzer Gemeinde vielseitige religiöse, kulturelle und soziale Aktivitäten an – von Gottesdiensten in der 2010 eröffneten Neuen Synagoge über Religionsunterricht und einer Jugendgruppe bis zu einem Kulturangebot für die überwiegend älteren Gemeindeangehörigen, darunter auch Unterstützung für Schoa-Überlebende.

In größeren Abständen können sich auch die Wormser Gemeindemitglieder in ihrer eigenen Synagoge treffen, ohne extra nach Mainz fahren zu müssen: Einmal im Monat finden dort Gottesdienste statt, außerdem ab und zu andere Aktivitäten.

mikwe Ähnlich wie in Mainz ist die Situation für die ebenfalls mehrheitlich älteren 136 Gemeindemitglieder in Speyer, erläutert die Gemeinde-Geschäftsführerin Maria Nikifora: Nach der Gründung der Gemeinde Rheinpfalz 1953 habe es neben der Verwaltung in Neustadt zuerst nur ein Gemeindehaus in Kaiserslautern gegeben, Anfang der 90er-Jahre seien Gemeindehäuser in Ludwigshafen und Speyer hinzugekommen. 2011 wurde die Synagoge Beith-Shalom in Speyer eingeweiht, es gibt unter anderem eine Bibliothek und Freizeitangebote.

In den alten SchUM-Städten hat sich also wieder neues jüdisches Leben entwickelt. Und seit einigen Jahren wächst auch das Interesse an der Geschichte. In Speyer besuchen die Gäste neben der Synagoge unter anderem die vermutlich zwischen 1110 und 1120 errichtete und gut erhaltene Mikwe, die Ruine der alten Synagoge und das Museum, in dem auch alte Grabsteine ausgestellt sind. Obwohl es einst zwei jüdische Siedlungen und Synagogen, einen Friedhof und eine berühmte Talmudhochschule gegeben hat, die als Geburtsstätte der Frömmigkeitsbewegung des Chassidismus galt, wurde die jüdische Gemeinde in Speyer durch ständige Verfolgungen und Zerstörungen stärker geschwächt als die in Worms – es gab deutliche Brüche.

Ähnlich war es in Mainz, das einst geprägt war von seinem alten Judenviertel am Rhein mit einer Synagoge und einer Mikwe, einem jüdischen Krankenhaus, einem Backhaus und einer Metzgerei. Nicht zu vergessen die Talmudakademie, die im 10. und 11. Jahrhundert vor allem von ihrem Gründer, dem Talmudgelehrten Gerschom ben Jehuda, und seinen wegweisenden Rechtsgutachten beeinflusst war.

Doch gegen Ende des 15. Jahrhunderts war es mit der kontinuierlichen Entwicklung vorbei, danach gab es rund 100 Jahre lang keine jüdische Gemeinde mehr. Richtig bergauf ging es erst Ende des 18. Jahrhunderts mit der Aufklärung, erhalten geblieben sind über die Jahrhunderte nur einige Grabsteine.

emotionen Schon früher habe es seit längerer Zeit großes Interesse für die SchUM-Themen gegeben, sagt Gerold Bönnen, der Leiter des Jüdischen Museums und des Stadtarchivs in Worms. Inzwischen nehme vor allem die Zahl der ausländischen Besucher in Worms von Jahr zu Jahr zu. »Es kommen auch immer mehr Israelis«, betont er. Für Nachfahren vom Emigranten sei die Verbindung zum Stadtarchiv ideal, dort fänden sie interessante Entdeckungen zu ihrer Familiengeschichte. »Das sind oft sehr emotionale Momente«, sagt Bönnen.

Auch in Speyer und Mainz nimmt das Interesse an der Geschichte zu. »Bei uns in der Synagoge in Speyer sind ständig Gäste«, freut sich Nikifora. Es kämen etliche Gruppen, sowohl aus der Region und Deutschland als auch aus der ganzen Welt – viele von ihnen aus Israel und den USA.

»Ein gesteigertes Bewusstsein« für die SchUM-Geschichte von Mainz kann auch Stella Schindler-Siegreich bestätigen. Und das, obwohl es dort nicht viel zu besichtigen gebe. Denn auch die Leerstellen seien Teil der SchUM-Geschichte, sagt sie – einer Geschichte, die nicht nur von Glanz und Gelehrsamkeit, sondern auch von Zerstörung und Vertreibung geprägt war.

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