Als in Stuttgart zur Eröffnung des neuen Kindergartens eingeladen wird, haben die Kinder das Sagen. Schmetterlinge, Prinzessinnen, Ritter, Piraten, Ballerinen, Marienkäfer bevölkern den Festsaal der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW). Sie klettern die Stufen zur Bühne hinauf, reihen sich zu einem Chor auf und singen: »Tumbala, tumbala, tumbalalaleika«, und sie laden die Erwachsenen zum Mitsingen und -klatschen ein.
Begleitet von Stela Tamarkina am Piano, entwickelt sich, nachdem einen Tag vorher in der Synagoge das Buch Esther über die Rettung der Juden vor rund 2500 Jahren in der persischen Diaspora gelesen wurde, ein szenisches Purimspiel von erstaunlicher Konzentration und Talent. »Esther im Wunderland« begeistert die Festgesellschaft aber auch deshalb, weil schon die Kleinsten eine ansteckende Purim-Atmosphäre präsentieren.
lebensfreude Sichtlich berührt von der Lebensfreude gesteht Isabell Fezer, Bürgermeisterin für Soziales, Jugend und Gesundheit: »Ich komme gern in dieses große, lebendige Haus, das so viel Wärme ausstrahlt.« Ein Kindergarten sei oft der Lebensmittelpunkt der Jüngsten. Spielräume dienten der Stärkung des Ich.
»Stuttgart hat mit der jüdischen Gemeinde zurückbekommen, was schon immer hierher gehörte«, sagte Fezer. Die jüdische Lebensweise sei Teil des Alltags in der baden-württembergischen Landeshauptstadt.
1,4 Millionen Euro hat der Umbau ehemaliger Büroräume zum 600 Quadratmeter umfassenden Kindergarten gekostet. Für Architekt Jossi Abiry und die Gemeinde in nur 13 Monaten Bauzeit »ein gewaltiges Projekt«, das ohne Unterstützung der Kommune so nicht zu bewältigen gewesen wäre, wie Barbara Traub gesteht. Nach der Zuwanderung habe sich der gute Ruf des Kindergartens der IRGW erst auf Russisch, später auf Deutsch verbreitet, so die Vorstandssprecherin der IRGW.
Individualität Landesrabbiner Netanel Wurmser nimmt die Bühnendekoration zum Anlass, die Entwicklung der Jüngsten in der Gemeinde als Bild darzustellen. »Ich wünsche den Kindern, dass sie schöne große Bäume mit vielen Ringen werden«, sagt Wurmser. Und er wünsche vor allem, dass die Kleinen sich gemäß ihrer Individualität entwickeln könnten und nicht irgendwelchen gesellschaftlichen Normen gemäß.
50 Kinder leben, spielen und lernen derzeit im neuen Kindergarten; eine Erweiterung der Kapazität bis zu 70 Kindern ist geplant. »Wir stocken das Personal nach und nach auf«, verrät Traub. Da es sich bei dieser pädagogischen Einrichtung um einen Kindergarten der jüdischen Gemeinde handle, würden bevorzugt Kinder von Mitgliedern aufgenommen.
Doch der Alltag zeige, dass gerade wegen seiner zentralen Lage in der Innenstadt die Einrichtung auch für christliche und muslimischen Familien interessant sei. Um die Kinder ihrem Entwicklungsstand entsprechend in die einzelnen Gruppen integrieren zu können, werden bei den über Dreijährigen Aufnahmetests durchgeführt. Er wird sowohl in deutscher als auch in russischer Sprache angeboten.
Dass das Purimspiel zur Eröffnung der wunderschönen neuen Räume mit Dialogen, Tanzeinlagen, Singen und Musizieren begeistert, ist nicht nur das Ergebnis von dreiwöchigen Proben, sondern gezielter Förderung. Zusätzlich zum täglichen Singen findet dienstags für alle Kinder Musikunterricht statt. Freitags werden die Gruppen – musikalisch begleitet – durch den Kabbalat Schabbat geführt.
Logopädie Ohne Sprache kein Purimspiel: Das Kindergartenteam – Sabina Morein als Leiterin, acht Erzieher, darunter jetzt auch ein Mann, eine Musiklehrerin, eine Bastellehrerin – wird durch ausgebildete Logopädinnen unterstützt. Sprache und Sprechen sei schließlich Bestandteil der kognitiven Entwicklung und damit ein »Tor zur Welt«. Sprache, so das Stuttgarter Konzept, mache das Kind zu einem Mitglied der Kultur, deren Sprache es erwerbe.
Geöffnet ist der Kindergarten von Montag bis Freitag. An gesetzlichen und jüdischen Feiertagen bleibt er geschlossen. Das Mittagessen wird im Restaurant Moses frisch zubereitet. Auf jüdische Traditionen und Bräuche wie Morgengebet, Händewaschen, Gebete sprechen und singen legt die Gemeinde besonderen Wert. Feiertage werden meist als große Feste vorbereitet und die Familien hierzu eingeladen. »Uns sagt man ja nach, dass das Lernen schon beginnt, kaum dass die Kinder abgestillt sind«, sagt Barbara Traub in ihrem Grußwort, kommentiert vom Lachen der Festgäste.