Gelsenkirchen

Neue Heimat

Die Jüdische Gemeinde Gelsenkirchen ist in der Stadt angekommen. 50.000 Besucher in zehn Jahren und 200 Gäste am Mittwochabend stellten eindrucksvoll unter Beweis, wie sich das jüdische Leben in der Ruhrgebietsstadt entwickelt hat. So sah es auch Zentralratspräsident Josef Schuster, der zum zehnjährigen Jubiläum angereist war.

»Wo ist nur das Gute geblieben? Wir sind die Menschen, die lieben! Haben wir den Krieg schon verloren? Nein, das Gute ist jetzt geboren.« Diese vier Liedzeilen hätten es ihm angetan, sagte Schuster und ließ die Gäste nur kurze Zeit im Unklaren darüber, wer diese Zeilen verfasst hat. Nicht etwa ein Rabbiner, sondern Jugendliche des Gelsenkirchener Jugendzentrums Chesed texteten dies für ihren Beitrag zur Jewrovision 2016. Solche Zeilen von jungen Menschen bewiesen, wie erfolgreich Jugendarbeit sein könne und wie »quicklebendig« die Gemeinde sei.

festakt Es sei immer ein schöner Anlass, das Jubiläum einer Gemeinde zu feiern, sagte Schuster. Und deshalb sei er auch »sehr gerne zu diesem Festakt« gekommen. Das Gemeindezentrum symbolisiere für ihn neu erwachtes jüdisches Leben in Deutschland, das mit diesem Bau quasi in Stein gemeißelt worden sei. Doch was wäre – und so fragten alle Redner an diesem Abend –, was wäre »ein solches Gebäude, wenn es nicht mit Leben erfüllt wäre? Kalter Stein«, liefert Josef Schuster die Antwort gleich mit.

Das Gemeindezentrum in der Georgstraße hingegen sei eben nicht kalter Stein oder Beton. Oberbürgermeister Frank Baranowski ging in die Geschichte zurück und erzählte, wie aus einer Idee, einer Vision weniger Einzelner ein Gesamtwerk vieler Befürworter wurde. Und wie auf dem Grundstück, auf dem bis 1938 die alte Synagoge gestanden hatte, 2007 die Neue Synagoge eröffnet werden konnte. Der 1. Februar 2017 sei für ihn ein Tag der Freude über die religiöse Vielfalt und Toleranz in der Stadt. »Ich bin froh, dass es diese Synagoge an dieser Stelle gibt und wir die jüdische Gemeinde haben«, bekannte der OB, der schon am Festakt vor zehn Jahren teilgenommen hatte.

»Mit dem Bau allein ist das Werk noch nicht vollendet«, sagte Hanna Sperling, Vorsitzende des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Westfalen-Lippe. Sie erinnere sich genau daran, wie 2007 die Torarollen durch die Stadt getragen wurden. »Es war ein Erlebnis, das uns allen zu Herzen gegangen ist.« Und dieses Gefühl habe sich fortgesetzt. Die Gemeinde liebe ihre Mitglieder und mache ihnen nicht nur alle erdenklichen Angebote, sie biete ihnen vor allem Geborgenheit – das spüre man.

torarollen Die Rabbiner Avichai Apel und Julian-Chaim Soussan hatten vor zehn Jahren die Stadt mit den Torarollen im Arm »durchtanzt«, wie sich Soussan erinnerte. Man habe damals neugierige und wohlwollende Blicke in der Gelsenkirchener Bevölkerung wahrnehmen können.

Und auch der heutige Frankfurter Rabbiner ging auf dieses Gefühl und die besonders herzliche und heimatliche Atmosphäre ein, die die Gelsenkirchener Gemeinde aussende. Den Geist, der in ihr herrscht, verglich er mit der Suche Jakobs nach der Gegenwart Gottes, den er nach dem vermeintlichen Tod Josefs verloren glaubte und ihn dann wiederfand. »Wir sind glücklich, dass es Menschen wie dich gibt«, sprach Soussan die Gemeindevorsitzende Judith Neuwald-Tasbach in seiner sehr persönlich gehaltenen Rede direkt an.

Die Grüße aller Rabbiner in Deutschland übermittelte Rabbiner Avichai Apel, ebenfalls aus Frankfurt. Der Begriff »Tradition« scheine ihm am besten den Geist der Gemeinde Gelsenkirchen wiederzugeben, sagte Apel – eine Tradition, die von Generation zu Generation weitergegeben werde. In Gelsenkirchen sei es Kurt Neuwald gewesen, der nach 1945 gemeinsam mit anderen die Gemeinde wiederaufgebaut hat und sein Engagement für die Gemeinschaft an die Tochter weitergab, die sie wiederum der Jugend vermittle.

gemeinschaft Auch Rabbiner Chaim Kornblum sprach diesen gemeinsamen Geist an. Egal in welcher Sprache und auf welchem Fleckchen Erde sich Juden befänden, sie hätten in seltener Übereinstimmung für die Orte ihrer Zusammenkunft immer wieder Worte gefunden, die sich aus Gemeinschaft, Versammlung, Gemeinsamkeit zusammensetzten. Er wünsche sich immer voll besetzte Räume, in denen gemeinsam gelernt, gelehrt und diskutiert wird.

Zehn Jahre, sagte die Gemeindevorsitzende Judith Neuwald-Tasbach, seien in der jüdischen Zeitrechnung nicht viel. Für die Jüdische Gemeinde Gelsenkirchen seien die vergangenen Jahre gelebtes jüdisches Leben. Viel habe sich dank der großartigen Unterstützung durch Land, Kommune, christliche Kirchen und zahlreiche Unterstützer entwickelt, durch Jugendarbeit, den Zusammenhalt der Gemeinde, die Öffnung in die Gelsenkirchener Zivilgesellschaft.

dank Dank sagte sie aber auch für die Hilfe in schweren Stunden und erinnerte an die Demonstrationen gegen den Gaza-Krieg im Sommer 2014, während derer Gemeindemitglieder angepöbelt worden waren. Und sie sprach von den Attacken gegen das Gebäude, bei dem verschiedene Fenster zerstört worden waren. Diese Gemeinschaft in der Stadt wollte Neuwald-Tasbach gemeinsam mit Vertretern aus allen Gesellschaftsbereichen und mit den Gemeindemitgliedern feiern.

Der Text des Gelsenkirchener Jewrovision-Songs 2017 wurde an diesem Abend noch nicht verraten, aber mit Anna, Elinor, Shulamit und Dominik stehen schon die Nachfolger der diesjährigen Teilnehmer in den Startlöchern. Elinor verriet, dass sie vielleicht schon im nächsten Jahr dabei sein wolle.

David Sarazhynski, Benjamin Sarainski und Frederik Guski zeigten an der Geige, Klarinette und am Klavier ihre frühe Meisterschaft in der klassischen Musik. Umrahmt wurde der Festakt vom Gemeindechor Chawerim mit seiner Leiterin Svetlana Fomenko, die beim Abschlusslied »Hevenu Shalom Alechem«, Frieden auf der ganzen Welt, die Gäste aufforderte mitzusingen. Und das taten sie dann auch.

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