Die 29-jährige Rimma ist sichtlich angetan von ihren Fortschritten. Seit fünf Monaten nimmt sie regelmäßig einmal in der Woche im Gemeindehaus der Kölner Synagogen-Gemeinde am Kurs zur Einführung in die Selbstverteidigungstechnik Krav Maga teil. Die Atmosphäre in der Turnhalle strahlt Vertrauen aus. Heute sind drei Frauen und sieben Männer da, gut gelaunt und dennoch sehr konzentriert bei der Sache. Wolfgang Krymalowski, Vorsitzender von TuS Makkabi Köln, stattet der Trainingsgruppe einen Besuch ab. »Gestern haben sie noch auf einer Bowlingbahn gemeinsam gefeiert, und trotzdem sind heute alle gekommen«, meint er anerkennend.
Heute probiert Rimma erstmals gemeinsam mit einem Mann die in den letzten Wochen vorgestellten Abwehrtechniken aus – angstfrei und selbstbewusst. »Als Frau ging es mir am Anfang darum, die Schockstarre zu überwinden, die bei einem Angriff entsteht.« Man müsse handlungsfähig bleiben. »Der Kurs hat mir gezeigt, welche Möglichkeiten ich habe, in Angriffssituationen aus der Passivität herauszukommen«, erzählt Rimma. Dabei sind die sportlichen Fähigkeiten der Teilnehmer erkennbar sehr unterschiedlich. »Es ist toll, auch einmal mit einem deutlich Stärkeren spielerisch zu kämpfen. Wir lernen beide etwas dabei. Der Trainingseffekt strahlt auch in den Alltag hinein«, sagt die junge Frau. Es gehe nicht darum, Kampfbereitschaft zu entwickeln. Der Kampf bleibe der letzte Ausweg, hat sie gelernt.
Selbstbewusstsein Die in Israel entwickelte Verteidigungstechnik Krav Maga hat das Ziel, das Gelernte auch im Alltag, in Stress- und Bedrohungssituationen, anwenden zu können. Selbstbewusstsein und das Wissen um die eigenen körperlichen Fähigkeiten erhöht die Chancen, auch schwierige Situationen angstfrei zu bewältigen. Sich nicht einschüchtern zu lassen, ist ein Grundprinzip.
Am ehesten vermag man dies in einer Gruppe Gleichgesinnter zu erlernen, betont Rimma. Sie freue sich über den Trainingseffekt. »Meine körperliche Präsenz im Raum ist eine ganz andere als früher. Mein Selbstvertrauen ist in diesen fünf Monaten deutlich gewachsen.« Das wirke sich bei ihr auch auf andere Lebensbereiche aus. Die vertrauensvolle Atmosphäre im Kurs und die positive Gruppendynamik seien ein wichtiger Faktor im Training.
Nach einigen Aufwärmübungen geht es los. Michael, Mitte 30, ist ein sehr erfahrener und inspirierender Trainer. Er hat Krav Maga in Israel gelernt, so entsteht eine Brücke. Zuerst werden einige bereits eingeübte Kampftechniken in Zweiergruppen wiederholt. In der Gruppe werden vor allem Schlag-, Griff- und Tritttechniken erprobt. Wie wehre ich mich, wenn man mir die Kehle zudrückt, wenn ich plötzlich von hinten angegriffen werde?
Schlagtechniken Bei den Schlagübungen ziehen sich alle Teilnehmer Boxhandschuhe an. »Seid vorsichtig, es ist euer Freund«, betont Michael. Er gibt sehr kurze, eindeutige Anweisungen. Und immer wieder: »Seid konzentriert! Schaut euer Gegenüber an!« Zwischendurch mahnt er zur Pause: »Wasser trinken. Zum Wohl!« Auch nach 90 Minuten hat die spürbare Aufmerksamkeit nicht nachgelassen. Dima, Jamilah, Klaus und Marina verabschieden sich zum Schluss gut gelaunt.
Das Angebot für Krav Maga wurde in Köln begeistert aufgenommen: »Wir haben aus räumlichen Gründen eigentlich nur Platz für 19 Personen. Der Kurs, ausgeschrieben für die Altersgruppe 16 bis 45 Jahre, war rasch überfüllt. Vor allem junge Erwachsene treffen sich seitdem regelmäßig und mit gleichbleibendem Interesse«, freut sich Makkabi-Chef Wolfgang Krymalowski.
Es ist ein ambitioniertes Projekt. Dass es so gut angenommen wird, ist keine Selbstverständlichkeit. Der Begriff Krav Maga mag anfänglich viele irritiert haben. Dass Krav Maga eine lange jüdische, eine israelische Tradition hat, spricht sich hierzulande jedoch langsam herum. Eine alltagstaugliche Tradition des Widerstands, der Selbstbehauptung, des Stolzes. Eingeführt wurde diese Fähigkeit zur effektiven Selbstverteidigung von dem 1910 in Bratislava geborenen Imrich Lichtenfeld. Lichtenfeld war ein vielseitiger, sehr erfolgreicher Sportler und Tänzer.
30er-Jahre Als es in den 30er-Jahren auch in der Slowakei zu zahlreichen antisemitischen Überfällen kam, bildete der junge Jude eine Schutztruppe. In den Straßenschlachten erlernte er pragmatische Techniken des Überlebenskampfes – und gab diese auch an jüdische Freunde weiter. Lichtenfeld floh. Nach einem zweijährigen Intermezzo unter anderem bei der britischen Armee gelang ihm die Einreise nach Palästina.
Bei der Hagana bildete er Soldaten in der Selbstverteidigung aus. 1948 wurde Lichtenfeld Chefausbilder im Nahkampf der gerade gegründeten Zahal. Dies war zugleich die Geburtsstunde des Selbstverteidigungstrainings Krav Maga. Zahlreiche Berufs- und Altersgruppen werden heute in Israel, aber inzwischen auch in einigen jüdischen Gemeinden in Deutschland in diese Form der Selbstverteidigung eingeführt.
Andris, ein Krav-Maga-Freund aus Lübeck, betreibt schon lange Krav Maga. Er betont: »In spielerischer Leichtigkeit üben wir den Umgang, die Auseinandersetzung mit – im Ernstfall – lebensgefährlichen Situationen. Wir haben die Pflicht zu leben, das ist ein jüdisches Versprechen. Das ist das genuin Jüdische an diesem Konzept.«
Aktueller anlass Der Erfolg des Kurses hat Wolfgang Krymalowski dazu ermutigt, dieses Angebot nun auch für Kinder und Jugendliche in der Ottostraße anzubieten. Der neue Kurs hat ein trauriges und anscheinend notwendiges Thema: Einführung in die Selbstverteidigung gegen Messerangriffe.
Dass dieses Problem nicht nur in Israel, sondern auch in Köln eine bedrückende Aktualität hat, zeigte der Messerangriff eines Rechtsradikalen Mitte Oktober auf die Kölner Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker. Sie überlebte mit Glück, vor allem dank der mutigen Reaktion eines kurdischen Kölner Taxifahrers. Er hatte keine Angst, stoppte den Angreifer – und rettete Reker das Leben. Inzwischen hat sie ihren Posten als Kölns Oberbürgermeisterin angetreten.
Der neue Krav-Maga-Kurs findet jeden Mittwoch statt. Die ersten beiden Schnuppertermine am 6. und 13. Januar sind kostenlos. Jedes interessierte Gemeindemitglied, Kinder ab sechs Jahren oder Jugendliche, kann zum Kennenlernen kommen. Hier kann man eine Steigerung seines Selbstbewusstseins erfahren. Und an eine alte jüdische Tradition anknüpfen.