Eigentlich arbeite ich die ganze Zeit. Auch wenn man das vielleicht keine richtige Berufstätigkeit nennen kann: Ich begleite Solisten und den Chor VIP in der Kölner Synagoge auf dem Klavier. VIP bedeutet Voices in Peace, und ich arbeite schon fast zehn Jahre mit ihnen zusammen. Es ist ein Jugendchor. Viele Deutsche singen dort, auch Mädchen aus der Gemeinde. Wir singen auf Hebräisch, Russisch, Englisch, Deutsch. Mir gefällt die Beschäftigung mit den jungen Leuten sehr. Wir proben zweimal in der Woche, je zwei Stunden.
Jedes Jahr sind wir bei den Israeltagen und bei allen Veranstaltungen in der Synagoge dabei. Wir haben sehr viele Auftritte. Vor ein paar Wochen waren zwei Chöre aus Israel bei uns zu Besuch, und wir gaben ein gemeinsames Konzert am Mahnmal für die Juden aus Köln. Mir fiel der Abschied von ihnen schwer. Es war traurig, sich zu trennen. Die Chormitglieder waren in Familien untergebracht. Auch wir haben eine Frau aufgenommen und ihr Köln gezeigt. Ich bin aus diesem Anlass zum ersten Mal in einen Sightseeing-Bus gestiegen. Sonst habe ich mir die Stadt immer nur erlaufen.
In Köln lebe ich seit 2001. Schon ein paar Tage nach der Einreise habe ich angefangen, hier auch Musik zu spielen. Im Wohnheim für die Neueinwanderer gab es ein Keyboard und ein Klavier. Ich musste mein Piano in Moskau lassen, aber selbstverständlich habe ich einiges an Noten mitgebracht. Die Musik ist mein Beruf. Mehr als 30 Jahre habe ich an einer Musikschule unterrichtet. Ich habe auch Solisten, Chöre und Musiker bei ihren Auftritten auf dem Klavier begleitet.
Das Wohnheim im Stadtteil Weiden wurde von einer Bürgerinitiative mitgetragen. Das waren wunderbare Menschen, die uns wärmstens empfingen. Sie haben Museumsbesuche, Konzerte und Literaturabende veranstaltet. Da habe ich angeboten, bei den Literaturabenden zu spielen und eine Musikgruppe für die Kleinen zu organisieren.
Beschwerde Als wir nach einem halben Jahr Weiden verlassen haben, bot mir Barbara Wichelhaus, die Leiterin der Bürgerinitiative, ihr eigenes Klavier an. Ich habe es dankbar angenommen, aber leider konnte ich es in unserer neuen Wohnung nicht aufstellen. Wir wohnen in einem Mehrfamilienhaus, die Nachbarn stören sich an dem Geräusch. Frau Wichelhaus war einverstanden, dass ich das Instrument dem Kulturzentrum der Russischsprachigen überlasse. Es gab dort Konzerte, ich habe darauf gespielt, die Kinder haben darauf geübt. Leider gibt es dieses Zentrum nicht mehr, und das Piano ist seitdem verschwunden.
Wenn mich Solisten bitten, sie bei ihren Auftritten zu unterstützen, sage ich nicht nein. Es gibt sehr viele Musiker aus der ehemaligen Sowjetunion hier. Unser Können ist gefragt, die Jüngeren unterrichten an den verschiedenen Musikschulen. Da ich nun ein E-Piano besitze, kann ich zu Hause üben, wie es mir passt. Um die Nachbarn nicht zu stören, setze ich Kopfhörer auf.
Jazzmusik mag ich sehr. Früher hatte ich keine Zeit, mich damit zu beschäftigen. Hier jedoch habe ich mir Noten gekauft und spiele zum eigenen Vergnügen oder im Freundeskreis. Noch etwas, wofür ich früher keine Zeit fand, sind Blumen. Ich mag es sehr, wenn es auf dem Balkon grünt und blüht. Ich habe mir die verschiedensten Sorten gekauft und einen Fliederbusch auf der Grünfläche vor unserem Haus gepflanzt.
Leider spielen die Jungs aus dem Viertel dort Fußball. Ich versuche vergeblich, ihnen zu erklären, dass das den Pflanzen schadet. Mein Mann Juri und ich haben beide so eine Art Hobby: Wir reinigen unsere Straße. Das machen wir schon seit sieben Jahren. Es ist eine schöne Straße mit viel Grün, aber sehr schmutzig. Die jungen Leute, besonders die Schüler, sind leider nicht dazu erzogen worden, dass es nicht gut ist, Müll gleich vor die Füße fallen zu lassen. Weil wir unsere Straße so schätzen, haben wir uns entschlossen, den Abfall einzusammeln.
putzaktion Mit einer langen Zange, Gummihandschuhen und Mülltüten ausgerüstet, starten wir einmal in zwei Wochen, unsere Putzaktion. Die Nachbarn freuen sich, dass sich noch zwei bis drei Tage danach dort angenehmer spazieren lässt. Einmal hat uns ein junges deutsches Paar angesprochen: »Uns gefällt es sehr gut, was Sie da machen. Wir tun es manchmal auch.« Wir haben zwar nie jemand anderen gesehen, aber immerhin: Man unterstützt uns. Ein einziges Mal hat uns ein älterer Mann gesagt, das mache keinen Sinn, weil man den Kindern hier nicht von Anfang an beibringe, wie wichtig Sauberkeit sei. Er meinte, wir kämpften auf verlorenem Posten.
Es ist traurig, wenn man das den Kindern weder in der Familie noch in der Schule erklärt. Ich habe Deutschland immer als ein sauberes, gepflegtes Land gekannt – aber das kommt ja nicht von allein. Ich mag Köln sehr gern. Es ist eine demokratische Stadt. Es gibt nicht den autoritären Druck, den wir in Russland spürten. Mein Mann und ich interessieren uns für Politik. Wir engagieren uns hier aber nicht aktiv wegen des Alters und der Sprachprobleme.
Ich denke, am meisten Zeit verbringen wir mit Lesen. In unserem Stadtviertel gibt es eine gute Bibliothek mit Büchern auf Russisch, da leihen wir eine Menge aus, Klassiker ebenso wie Neuerscheinungen. Wir haben auch Bücher auf Deutsch, aber das ist für uns ein bisschen zu kompliziert. Immerhin reichen unsere Deutschkenntnisse, um sich im Internet zu informieren. Unsere Chorproben sind natürlich auf Deutsch: Ich höre also ständig diese Sprache und muss sie auch verstehen. Aber Verstehen ist eine Sache, Sprechen eine andere, das fällt mir schwerer.
International Der Sprachkurs hat sich damit schon gelohnt. Mein Mann und ich haben ihn gemeinsam absolviert. Die Zusammensetzung war höchst international: Es gab Afghanen, Afrikaner, Türken, russischsprechende Teilnehmer. Da wir alle hier in der Gegend wohnen, grüßen wir uns jedes Mal fröhlich, wenn wir uns auf der Straße sehen. Das ist der Verdienst unserer Dozentin, die ein wunderbares Klima in der Klasse geschaffen hat.
Da ich ein sehr kommunikativer Mensch bin, konnte ich hier viele neue Freunde finden. Meine besten sind natürlich in Moskau geblieben. Ich fahre gelegentlich hin, Freunde und Verwandte besuchen. Ich halte auch noch den Kontakt zu meinen ehemaligen Schülern. Wir telefonieren regelmäßig, in den letzten Jahren immer mehr über Skype. Es sind Hunderte, schließlich habe ich 30 Jahre unterrichtet. Ich versuche, auf dem Laufenden zu bleiben, was sie betrifft, denn ich kenne und liebe sie seit ihrer Kindheit.
Meine eigene Klavierlehrerin lebt noch. Sie hat angefangen, mich zu unterrichten, als ich fünf Jahre alt war. Sie ist wie eine zweite Mutter für mich und der einzige Mensch, der mich noch in diesem zarten Alter kennt. Sie ist jetzt 86 Jahre alt: ganz klar im Kopf, aber physisch sehr geschwächt. Wir haben auch einen Enkel, der schon 18 Jahre alt ist. Mein Mann, der als Physiker gearbeitet hat, bringt ihm Mathematik und Physik bei. Und ich das Kochen. Gestern haben wir zusammen eine delikate Pilzsauce gekocht.
Unser Chor plant für dieses Jahr noch zahlreiche Auftritte. Dann haben wir Sommerferien, die haben wir uns wirklich verdient. Und im Herbst stehen wir wieder auf der Bühne und bereiten ein neues Programm vor. Langweilig wird es uns nicht.
Aufgezeichnet von Matilda Jordanova-Duda.