Wo Jugend ist, ist Zukunft: Mit einem gesungenen »Schana Towa« begrüßten am 5. Tischri 5779 die Kinder des Kindergartens und der Jüdischen Grundschule die Gäste zum Neujahrsempfang der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW).
Wegen der großen Zahl an Gästen musste der Empfang vom Gemeindesaal kurzfristig in die Synagoge verlegt werden. Der Einladung durch die IRGW waren mit Vertretern des Diplomatischen Corps, der Kirchen und Religionsgemeinschaften, Vertretern des Landes Württemberg und der Landeshauptstadt Stuttgart sowie der Polizei alte und neue Freunde der Gemeinde gefolgt.
AfD Sie alle mögen bestätigt haben, was Barbara Traub in ihrem Grußwort sagte: »Gefühlt gehört die Jüdische Gemeinde längst zu den Stadtgesellschaften Stuttgarts, Ulms und Esslingens.« Und doch gehe man mit sehr gemischten Gefühlen ins neue Jahr, so die Vorstandssprecherin der IRGW.
»Sie alle kennen ja die Publikationen eines Abgeordneten des Landtages von Baden-Württemberg, in denen es heißt: ›Die Ghetto-Juden sind die inneren Feinde des christlichen Abendlandes‹«, zitierte Traub eine Propagandaschrift des AfD-Abgeordneten Wolfgang Gedeon. Diese dient offenbar als Freibrief für Gewalttaten.
So waren vor wenigen Monaten in unmittelbarer Nachbarschaft zur IRGW Grabsteine auf dem Hoppenlau-Friedhof geschändet worden. Die Täter blieben unbekannt. Unbekannt sind bisher auch die Täter, die die Fassade der Ulmer Synagoge demolierten, Gräber auf dem Hechinger Friedhof schändeten und in Heilbronn 2017 alle Chanukkaleuchter zerschlugen.
»Als jüdische Gemeinde haben wir die Weichen für ein gutes und hoffentlich süßes Jahr 5779 gestellt. Als Gesellschaft haben wir noch einiges an Hausaufgaben zu erledigen«, schloss Barbara Traub ihr Grußwort.
Selbstbewusstsein »Es ist, ehrlich gesagt, für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland nicht ganz leicht, optimistisch auf das neue Jahr zu blicken«, sagte auch Zentralratsvizepräsident Abraham Lehrer, der zum Rosch-Haschana-Empfang der IRGW nach Stuttgart gekommen war. »Doch in dieser Umgebung wirkt es plötzlich einfacher«, sagte er.
Lehrer hatte das Gemeindezentrum über den neu gestalteten Synagogenvorplatz betreten, der »die Synagoge in ein neues Licht rückt«. Zugleich zeige die IRGW durch die architektonische Öffnung in die Umgebung Selbstbewusstsein. Lehrer begrüßte auch den neuen Rabbiner der Stuttgarter Ortsgemeinde, Yehuda Pushkin, und dankte dem früheren Landesrabbiner Netanel Wurmser für 16 Jahre Tätigkeit in der IRGW.
Selbstbewusstsein wird die IRGW auch mit der Einbringung der von der Stadtgesellschaft gespendeten Torarolle zeigen, die am 26. September im Rathaus vollendet und nach einem feierlichen Umzug durch die Landeshauptstadt in die Synagoge eingebracht werden wird.
Weltoffenheit Und dann stellte Abraham Lehrer eine Frage, die sich derzeit alle humanistisch gesinnten Bürger stellen: »Wohin entwickelt sich unsere Gesellschaft?« Antwort gaben beim Neujahrsempfang Vertreter von Stadt und Land. »Wir wollen eine weltoffene Stadt bleiben und werden alles dafür tun«, sagte Bürgermeisterin Isabell Fezer. Und Staatssekretärin Theresa Schopper sagte: »Jeder muss Verantwortung in der Gesellschaft übernehmen, die antisemitischen Parolen greifen uns alle an.«
»Alles ist möglich, wenn man sich im neuen Jahr mit seinem neuen Ich trifft«, benannte Rabbiner Yehuda Pushkin das religiöse Anliegen der Zeitspanne zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur, der Zeit zwischen Einkehr und Versöhnung.